Im Bild am Tisch sitzt Julia Araújo als Tatjana

Zwischen Festtafel und Kriegsdenkmal

Pjotr Tschaikowski: Eugen Onegin

Theater:Stadttheater Gießen, Premiere:23.03.2024Regie:Ute M. EngelhardtMusikalische Leitung:Vladimir Yaskorski

Am Stadttheater Gießen zeigt Ute M. Engelhardt Tschaikowskis „Eugen Onegin“ zunächst in bäuerlicher Häuslichkeit – um den 3. Akt dann ins Militärische zu überführen. Der Entwicklung ihrer Figuren tut das keinen Abbruch – vor allem Julia Araújo als Tatjana und Grga Peroš als Onegin begeistern im Finale.

„Kultur lässt sich nicht auf Nationalstaatlichkeit reduzieren.“ Mit deutlichen Worten begrüßt Dramaturg Christian Förnzler am Stadttheater Gießen das Publikum zur Premiere von Pjotr Tschaikowskis „Eugen Onegin“. Und räumt damit Zweifel aus, ob die meist gespielte russische Oper in diesen Zeiten auf die Bühne gehört. Inszenierungen an der Rheinoper in Düsseldorf und am Theater Bonn haben das kürzlich unterstrichen – auch ohne der zeit- und ortlosen Liebestragödie eine politische Setzung aufzuzwingen.

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Kriegsdenkmal statt fürstlicher Ballsaal

In Gießen geht Regisseurin Ute M. Engelhardt zumindest im letzten Akt einen Schritt weiter und verlegt Fürst Gremins großen Festakt aus dem Ballsaal an ein frisch eingeweihtes Kriegsdenkmal. Davor posieren Soldaten in teils bizarr überzeichnetem Freeze, während Gremin als verwundeter Offizier am Stock geht und mit Schmiss an der Wange gezeichnet ist.  Dass die Titelfigur Onegin – nach Jahren im Ausland – hier komplett auf sich selbst zurückgeworfen ist zwischen all den umherwuselnden Uniformierten, ist ein starkes Bild seiner Isolation. Und dass die feine Sankt Petersburger Gesellschaft hier der glattgebügelten, militärischen Upperclass entspricht, passt durchaus ins Arrangement.

Grga Peroš, verloren zwischen Militärs

Grga Peroš als Onegin, verloren zwischen Militärs. Foto: Lena Bils

Besonders deutlich wird der Bruch hin zu dieser militaristischen Welt, weil die ersten beiden Akte noch im heimeligen Landhaus von Larina und ihren Töchtern Olga und Tatjana spielen. Hier dient ein langer Holztisch als Tafel der bäuerlichen Gemeinschaft, geschmückt mit weißen Tischtüchern und Kerzen; dutzende Zimmerpflanzen bilden ein künstliches Gartenambiente (Bühne: Lukas Noll). Warum die dunkle Bretterbühne gelegentlich einbricht unter den Füßen von Lenski oder Tatjana, bleibt ebenso sinnfrei wie die ständig und viel zu oft sich drehende Bühne. Zeitlos geschmackvoll dagegen sind die creme- und ockerfarbenen Kostüme von Christian Tabakoff, in denen Chor- und Extrachor mit großer Spielfreude agieren (Leitung: Moritz Laurer).

Cooler Onegin, blasser Lenski mit Wodkaflasche

Als Olgas Verlobter Lenski mit Nachbar Onegin zu Besuch kommt, ist die Rollensetzung gleich klar: Dieser Onegin – den Grga Peroš mit Sonnenbrille und lässig das Jackett über die Schulter geworfen als coolen Typen gibt – ist schon optisch das Gegenbild zum blassen Lenski, der sich immer nur hilflos die Haare aus dem Gesicht streicht, oft apathisch rumsteht und die Erniedrigung durch seinen Freund mit Wodka zu ertränken versucht (auch stimmlich farblos: Michael Ha).

Michael Ha als Lenski (vorn), Grga Peroš als Onegin und Monica Mascus als Larina (rechts). Foto: Lena Bils.

Klar, dass Olga da lieber mit Onegin tanzt und die introvertierte Tatjana ihm schon beim ersten Anblick hoffnungslos verfällt… Sowohl Julia Araújo als Tatjana wie auch Grga Peroš als Onegin geben beachtliche Rollendebüts ab und spielen die emotionale Zerrissenheit ihrer Figuren vor allem im Schlussbild aus: Peroš mit kraftvollem, warmtimbriertem Bariton und Julia Araújo mit hinreißender, honigsüßer Phrasierung. Wie sie – getragen durch das sängerfreundliche Dirigat von Vladimir Yaskorski – Töne aus dem Nichts ins Pianissimo zu überführen vermag, mit unmerklich zartem Vibrato, bringt Stille ins undisziplinierte, weil unruhige Gießener Publikum.

Jana Marković als lebensfrohe Olga überzeugt im Rollendebüt ebenfalls wie Monica Mascus als Mutter Larina mit glänzender Mezzo-Höhe begeistert. Das durchweg gut besetzte Ensemble ergänzen Judith Christ-Küchenmeister als Filipjewna mit rauchig-tiefer Stimmfarbe, Tomi Wendt als Saretzki (beachtlich!), Mathias Frey als Triquet und dem eher zarten Gremin-Bass von Clarke Ruth. Auch der Lenksi von Michael Ha ist ein Rollendebüt, leider bleibt er der Partie einiges schuldig. Er dekliniert Töne, statt Melodien zu phrasieren, hat Spitzentöne zwar mit Leichtigkeit, doch ohne Farbnuancen und emotionalen Ausdruck.

Vladimir Yaskorski führt das Philharmonische Orchester Gießen fast intim, unterstreicht Tschaikowskis Melodien teils quälend langsam, teils in beherztem Tempo. Vor allem das Schlussduett von Tatjana und Onegin gerät so zum musikalischen Hochgenuss. Großer Jubel vor ausverkauftem Haus.