Foto: "Die Bluthochzeit" am Stadttheater Bremerhaven. Yamina Maamar (Braut), Filippo Bettoschi (Leonardo) © Heiko Sandelmann
Text:Jens Fischer, am 15. März 2015
„Die Gier brennt wie Feuer“, heißt es im Libretto. Da geht es im konkret sexuellen Sinn um der Triebe Urgewalt. Im musikalischen Sinn aber scheint dieser Satz von Beginn an das Motto des Abends zu sein: Hat das Orchester des Stadttheaters Bremerhaven sich jemals mit so gierigem Elan durch eine Partitur gearbeitet? Der neue Generalmusikdirektor Marc Niemann peitscht mit seinem klaren, nicht deutenden, sondern verdeutlichenden Dirigat die Musiker zu Höchstform und lässt Sándor Szokolays „Vérnász“ in einer scharfkantigen Wiedergabe von packender Intensität wiederaufleben. Nach der ungarischen Uraufführung 1964 fand das Werk laut Programmheft nur zweimal den Weg auf deutsche Bühnen, in Wuppertal und Erfurt, um nun – nach fast 40-jähriger Inszenierungspause – an der Nordseeküste als Rarität gefeiert zu werden – im nicht einmal halbvoll besetzten Zuschauersaal.
Frederico Garcia Lorcas „Bluthochzeit“ hat durch die eingeschriebenen Lieder und den poetischen Zauber der Sprachmusik schon als Schauspiel etwas Musikalisches. Dass in wüstenheißer Atmosphäre archaische Traditionen das Alltagsleben wie eine Liturgie der Verdrängung von Sinnesfreuden und geistiger Bewegungen erscheinen lassen, es unter der stolzen andalusischen Härte also gefährlich brodelt, macht den Stoff so spannungsgeladen reizvoll für ballettmusikalische Vertonungen und Veroperungen, von denen es mehrere gibt. Szokolay interessiert sich erstmal nicht für Lokalkolorit, zitiert folkloristische Motive nur pittoresk en passant und verzichtet auf Stimmungsmalerei. Er ballt ein Jahrhundert Musikgeschichte, von Puccini über klassische Bartók-Moderne bis hin zum Jazz, mit hoher Suggestivkraft: expressionissimo. Messerscharf funkelnd und mit erbarmungslos donnernden Schlägen beginnt das Werk fulminant – und kommt anschließend trotz eingefügter Sprechgesang-Passagen nie richtig zur Ruhe. Mit dunkel donnernder Unerbittlichkeit entwickelt sich ein Sog, eine chronische Raserei wider das Schicksal: Figuren wollen sich aus dem Gefängnis der Konventionen, Töne aus dem Gefängnis der Spätromantik befreien. Selbst wenn ein „Wie schön du bist“ anschmachtend geäußert wird, sprießen nicht die Noten sanft zu einer Frühlingswiesenmelodie empor, sondern ballen sich zusammen, toben los, als müssten alle Leidenschaften genau jetzt und für immerdar kundgetan werden – und folgerichtig klingt das dann auch manchmal so, als würde die Welt untergehen. Was da aus dem Orchestergraben kraftvoll lodert, ist geradezu ein Kompendium Blutdruck steigernder Filmmusikeffekte.
Regisseur Andrzej Woron versucht, sich gegen Klangsturm und zerstörerische Emotionen mit Stilisierungen und Statuarik zu behaupten. Der extremen Farbigkeit der Musik setzt er eine reduzierte Farbdramaturgie entgegen: sonnengrelles Gelb röstet die Familienszenen, in Blutrot sind Liebe und Eifersucht getunkt – und Nachtschwarz steht natürlich für den Tod. Hier dargestellt durch eine vom Wohlstandsmüll lebende Bettlerin – und ihren Helfer, den Mond. Er geht nicht auf, sondern schwebt in Harlekinuniform auf einem Servierwagen aus dem Schnürboden herab und steuert mit einer Art Playstation das Bühnengeschehen. Dabei misslingt ihm (und Woron) das Finale komplett: Wenn der Bräutigam und der Ex seiner Braut um deren Gunst streiten, dabei gleichzeitig eine Familienfehde austragen und sich sinnlos massakrieren, baumeln sie hilflos an Schnüren über dem Boden, bekommen nur ein paar knuddelige Umarmungen, keinen für beide tödlichen Messerkampf hin. Und spätestens da darf gefragt werden: Worum geht’s denn genau? Warum öffnet die Braut ihre Haarpracht willig für diese kerlige Peinlichkeit Leonardo, die als brutaler Macho mit Errol-Flynn-Bärtchen daherkommt? Soll gezeigt werden, dass Frauen in Sachen Partnerwahl nicht zurechnungsfähig sind, gern den netten Biedermann heiraten, aber die rohe Körperlichkeit des eitlen Grobians ersehnen? Deutlich wird Woron auch nicht beim Thema Blutrache, das aus unzivilisierten Zeiten der Selbstjustiz in Form von Ehrenmorden ja auch in Deutschland durchaus Schlagzeilen macht. Die Regie scheint genug Arbeit mit dem Bekleiden, Ausleuchten und Arrangieren der Standbilder zu tun zu haben – als auch noch inhaltlich aufschließen zu können, ob der melodramatische Reißer speziell spanisch, bloß historisch oder gar heutig ist. So lenkt nichts vom Triumph der Musik, des Orchesters und eines durchweg überzeugenden Ensembles ab. Herausragend das „Dienstmädchen“ Regine Sturm, die ihre Empörung über die wankelmütige Braut mit strahlender Verve zu gestalten weiß – und diese selbst, deren Verzweiflung zwischen liebeskuscheliger Ehe- und Eros-schäumender Affärenlust von Yamina Maamar im Stil einer wahnsinnig werdenden Belcanto-Heroine ausformuliert wird: gierig.