Foto: Christian Sturm und Philipp Alfons Heitmann in Enver Yalcin Özdikers Kammeroper „Aufstand“ am Theater Wuppertal. © Uwe Stratmann
Text:Andreas Falentin, am 5. März 2012
Am 9. Mai 1849 fand im heutigen Wuppertal-Elberfeld eine Mini-Revolution statt, ausgelöst durch die Ablehnung der in der Frankfurter Paulskirche erarbeiteten Verfassung durch den Preußischen König. Die Kämpfe dauerten einen Tag, forderten fünf Todesopfer und verursachten eine Woche lang chaotische Zustände in der Stadt.
Feridun Zaimoglu und sein Co-Autor Günter Senkel fassen den Stoff wirkungsmächtig in ein klassisches Melodrama und stellen sich damit – selbstbewusst und sehr reflektiert – in die Tradition der Handlungstragödie à la Schiller. Der 1981 geborene Enver Yalcin Özdiker hat in seiner ersten Musiktheater-Arbeit dazu eine überraschend reife, bewegte und farbenreiche Theatermusik für zehnköpfiges Kammerorchester geschrieben. Auffällig ist die flächige Struktur, beeindruckend die Konsequenz in Text und Partitur, was den Einsatz des Gesangs betrifft. Er ist Ort der Leidenschaft einerseits, Mittel der Demaskierung von Pathos und Floskel andererseits. Wird es sonst ernst zwischen den Menschen, wird gesprochen, was das Wuppertaler Sänger-Ensemble auf erstaunlichem Niveau leistet.
Natürlich drängen sich aufgrund der Verbindung des Sujets mit der türkischen Herkunft von Autor und Komponist Assoziationen zu den Verhältnissen in ihrem Heimatland und dem „Arabischen Frühling“ auf. Christian von Treskow lässt diese mitschwingen, ohne sie zu bedienen. Die große Stärke seiner sehr klaren Inszenierung ist der souveräne und bewusste Umgang mit Klischees aller Art. Er bricht sie auf, ironisiert sie, besiegt sie durch Übertreibung – oder durch Ernst. So schafft er, vor allem im zweiten Teil der 90minütigen Vorstellung – trotz (oder wegen?) der überkommenen Form – ganz und gar ungewöhnliche Figuren.
Das Dienstmädchen schält Kartoffeln. Hinter der Bühne ahnt man das von Tobias Deutschmann inspiriert geleitete Orchester. Musik hebt an wie flüchtiger Nebel, zieht an, macht neugierig auf das, was dahinter ist. Das Ensemble sitzt hinter Tischen in oratorienhafter Strenge. Die Kostüme sind dunkel und historisch, erinnern an Verfilmungen von Romanen der Brontë-Schwestern. Zwei Töchter hat der Tuchfabrikant Jansen. Die „Rote Graziella“ verliebt sich ausgerechnet in den preußischen Offizier, ihre brave Schwester Susanne groteskerweise in den Vorarbeiter mit dem Barett. Immer wieder ist unerbittlich ein Gong zu hören. Am 9. Mai erschießt der Vorarbeiter den Offizier. In einer rhetorisch-akrobatischen, mit elektronischen Klängen unterlegten Slapsticknummer behauptet und belegt der Wuppertaler Bürger Friedrich Engels brillant, dass vom Bürgertum keine Erneuerung ausgehen kann. Er reist nach England und trinkt Tee hinter der Jalousie. Die Bühne wird zur Trümmerlandschaft mit roter Fahne. Der Vorarbeiter wird marodierender Freischärler.
Unversöhnlich stehen sich die Schwestern gegenüber. Kristina Stanek als kontrollierte, bewusst mit ihren Aggressionen umgehende Graziella und besonders Dorothea Brandt als von der Liebe weggerissene Susanne überragen das tolle Ensemble. Zu Herzen geht das wissende Solo der Klarinette. Blut quillt aus den Beuteln. Tot alles. Alles tot. Das auch vom Vorarbeiter verlassene Dienstmädchen schält Kartoffeln. Essen muss man immer. Lebendig bleibt das Theater in Wuppertal.