Foto: "Verschwundenes Bild" am Staatstheater Meiningen © Hoelting
Text:Ute Grundmann, am 26. Januar 2019
Die Tänzer stürmen auf die Bühne, können auf wackligen, ausgestreckten Beinen kaum stoppen, auch die hochgereckten Arme zittern. Ein starkes Bild für die Erschütterungen und Emotionen rund um das Jahr 1989, nicht das einzige an diesem Abend im Meininger Staatstheater. Hier hat Andris Plucis seine Choreographie „Verschwundenes Bild“ herausgebracht. Ein Bild, das ebenso untergegangen ist wie das Land, von dem es erzählt.
So ungewöhnlich wie das Thema dieses Tanzabends ist das Bühnenbild: Es besteht aus projizierten Schwarz-Weiß-Fotos des 1961 in Eisenach geborenen Fotografen Ulrich Kneise. Zusammen mit ihm hat Andris Plucis, Ballettchef und derzeit auch künstlerischer Leiter des Landestheaters Eisenach, sein neues Werk entwickelt.
Es beginnt idyllisch: Baumstämme und Äste sind zu sehen, ein Paar tanzt mit kleinen, fließenden Bewegungen in einem Lichtquadrat auf der ansonsten dunklen Bühne. Eine Tänzerin trägt einen Glaskasten herein, in dem sich ein belaubter Ast befindet, stellt ihn an der rechten Seite ab. Ein weiteres Paar, bürgerlich gekleidet, sie mit Augenbinde, umarmt sich. Als sie die Augenbinde abnimmt, geht sie enttäuscht davon.
Doch dann zeigen Kneises Bilder Fabrikfrauen, Tänzer jagen einem Lichtpunkt hinterher. Die Compagnie ist in locker sitzende, langärmlige Shirts (und Slips) gekleidet, in Schwarz und Rot, der orangefarbene Pullunder einer Solistin könnte Gold darstellen. Mit Bildern einer Zeigefingerhand und einer zerrissenen Flagge deutet sich dann die Wende an – Tänzer werfen grazil Zettel in den Glaskasten, einige bewegen sich wie gefesselt, andere tanzen frei. Zum Stichwort „Glück“ wird Johannes Brahms Symphonie Nr. 4 zum Triumphmarsch, wunderbar gespielt von der Meiniger Hofkapelle unter Generalmusikdirektor Philippe Bach. Nun stampfen die Tänzer rhythmisch, stampfen auch in Drehungen, verströmen eine Energie, die bisher zurückgehalten wurde.
So setzen Kneises Bilder Themen, die das Ballettensemble des Landestheaters Eisenach dann verkörpert. Das ist sehr spannend im Jahr 30 nach der Friedlichen Revolution, zumal auch ein brennendes Plakat „Deutscher Wille“ und ein Soldatenfriedhof zu sehen sind. Die Musik verkündet Unheil, die Tänzer taumeln. Nach der Pause gibt Anton Weberns Passacaglia d-Moll den eher aggressiv-bedrohlichen Ton vor, wieder spannungsvoll von der Hofkapelle gespielt, zu sehen sind Bilder von Wartburg, Arbeitssituationen, Windrädern über alten Orten. Schritte und Bewegungen bleiben zurückhaltend, einige Ansätze zu Pas de deux, doch meist bleiben die Tänzer allein. Sie wiegen sich in den eigenen Armen, machen vorsichtige Schritte auf dem neuen Terrain, wogen hin und her, versuchen, eine schützende Gruppe zu bilden. Paare sind meist getrennt, er rennt, sie hüpft grotesk; ein Pas de deux der Trennung bekommt Szenenapplaus. Mittlerweile hat Andris Plucis sein Thema zur Globalisierung ausgeweitet, er widmet sein Ballett den Insekten. „Es ist ein unfassbares Verbrechen, dass wir ihre Lebenswelt vergiften“.
Und so wird nach 90 Minuten zum zauberhaften Schluss aus dem Glaskasten ein Insekt in die Freiheit entlassen. Langer Beifall, Füßetrampeln als Lohn für Andris Plucis.