Foto: Ksenia Ryzhkova und Jinhao Zhang in „Der Schneesturm“ © Katja Lotter
Text:Roland H. Dippel, am 18. April 2021
Nach Hans Abrahamsens „The Snow Queen“ kurz vor Corona folgte „Der Schneesturm“ als zweite Uraufführung von Bayerischer Staatsoper und -ballett in kürzester Zeit. Für die Partitur hatte sich der mit Ballettmusiken erfahrene Lorenz Dangel für Hauschoreograf Andrey Kaydanovskiy über viele musikalische Stürme kundig gemacht. Das kristalline Treiben von Beat Furrers „Violetter Schnee“ war gewiss nicht darunter, der „Schneeflocken-Chor“ aus Tschaikowskis „Nussknacker“ allerdings auch nicht: Dangels Schneesturm klingt wie nahendes Hufetrappeln, elektrisch programmiertes Brausen und digital verfremdete Stimmen von Nirgendwo. Ein Akkordeon zitiert davor Folklorisierendes und hält sich in Pseudodistanz zu Maurice Jarres „Schiwago“-Melodie.
Eigentlich umreißt Alexanders Puschkin während einer Cholera-Quarantäne entstandene Erzählung „Der Schneesturm“ ein genaues Porträt der Hauptfigur Marja. Was ihr auch Schlimmes widerfährt durch die Trauung mit dem verwechselten, aber grundsätzlich nicht verfehlten Mann in der stockfinsteren Kirche: Es ist vom Autor begründet. Marja und die aus Crankos Psychoballett „Onegin“ bestens bekannte Tatjana Larin sind Schicksalsschwestern. Wer das echte Leben mit französischen Liebesromanen verwechselt, kommt zwar nicht um, zieht aber den kürzeren.
Andrey Kaydanovskiy händelt die Vorlage ‚very light‘. Er nutzt Puschkins Novelle überwiegend als Ablaufplan. Bühnenbildnerin Karoline Hogl lässt das Haus der Eltern Marjas und die Kapelle als Lichtkonturen aufleuchten. Arthur Arbessers Coutures sind immer tanzkompatibel – im ersten Teil schön bunt, im zweiten etwas realistischer. Die Familienaufstellung verbildlicht als Refrain im Wechsel bewegter und stillerer Bilder Marjas Erlebnismanko. Die Bedrängung durch drei Freier in Schwarz ist nicht einmal mürbe, sondern fad. Im Familienarrangement drängt sich der Vergleich an das westfälische Opening aus Bernsteins „Candide“ auf und sogar die erste Begegnung mit dem Fähnrich Vladimir wird ein bisschen Mambo, wenn Jonah Cook in das vom Bayerischen Staatsballett aufgestylte Geschehen etwas Natürlichkeit bringt. Bis in den zweiten Teil dauert es, dass die eigentlich brillante Ksenia Ryzhkova mehr als Posen zeigt. Sie hat eine schwere Position, weil vor und nach der auch von Kaydanovskiy vergeheimnisten Klimax wattierte Pantomime das Spannungskapital empfindlich attackiert.
Die Schlüsselszene mit Burmin (Jinhao Zhang), der sich als Angetrauter aus der Kapelle entlarvt und Silbersakko trägt, fließt zwischen Zagen und Drängen. Es knistert wenig. Aber dann kommen von Ksenia Ryzhkova wie aus dem Nichts faszinierende Bewegungsfolgen, bei denen Jinhao Zhang assistiert. Vergleichbar Spannendes liefert Osiel Gouneo als wendiger Belkin in fließenden Bewegungen und Solist eines inkludierenden Kriegsversehrten-Theaters. Mit beeindruckender Wendigkeit tanzt Gouneo – er ist der einzige, bei dem man im Stream die Synkopen einer durchpulst entwickelten Rollenprofilierung erlebt. Das von Lorenz Dangel mit Felix Trawöger und Aleksandra Landsmann koordinierte Mischpult flutet und flüstert dazu Sounds wie Glanzfolie auf farbintensiver Verpackung. Die Tänzerinnen und Tänzer agieren als bunte Hülsenfiguren auf einem Spielbrett. Tapsen in die Premieren-Watchparty, wetteifern in jubelnder Zustimmung.
Ein Schneesturm ist ein Schneesturm ist ein Schneesturm, der am Ende den zweiten Mann von Marjas Seite reißt. Leise wirbelt der Schnee im Hauptrequisit: In einer fußballgroßen Schneekugel wurde die Silhouette von Marjas Elternhaus dupliziert und mit dieser belastet sich die Protagonistin trotz dröger Erinnerungen auch im zweiten Teil. Moral: „Denke nie, dass ein (Seelen-)Schneesturm dein letzter sein könnte…“
Diese Uraufführung eröffnete die aus dem Nationaltheater in Staatsoper.TV verlegte Ballettfestwoche 2021. Das Programm reicht über ältere Aufzeichnungen von „Schwanensee“ und „Le corsaire“ über Zeitgenössisches bis zu „Filmische Erinnerungen an 30 Jahre Bayerisches Staatsballett / Black Cake“. Da wird noch deutlicher, dass Andrey Kaydanovskiy auf der Dramaturgie des konventionellen Handlungsballetts beharrt. Nur mischt die Bühnen-, Video- und Soundtechnik mehr mit als früher. So wird Marjas Traumszene nicht etwa zur getanzten Selbstoffenbarung, sondern zur Technikshow. Kaydanovskiy arbeitet wie mit Barcode-Etiketten: alles klar auf den ersten Klick.
Psychische Irritationen sind so gut wie ausgeschlossen, weil Innenspannungen gar nicht erst aufkommen. Deshalb dauert der große Pas de deux von Marja und Burmin weitaus länger als das Interesse daran. Der Coup in Puschkins Erzählung ist doch, dass Marja zwar abweisend auf den Gedanken an eine Heirat mit Vladimir reagiert, aber krank wird. Auf der Bühne sieht man hier dagegen in Teil Eins und Teil Zwei eine von chronischer Gleichgültigkeit infizierte Frau.
Aktuell wird Andrey Kaydanovskiy vor allem in seinem künstlerischen Sicherheitsdenken. Der Abend spiegelt perfekt die Bequemlichkeit einer Risikogesellschaft, in der es schon zu viel ist, sich zum Ausgang bei Frost und Sturm etwas wärmer anzuziehen. Wer aus der Reihe tanzt, fällt auf und fliegt raus wie Belkin. Stillhalten wie vor der Nostalgie-Kamera scheint die bessere Lösung. Und nach der Kirche kommen die Clowns: Shale Wagman als Priester tänzelt ein meisterhaftes, fast akrobatisches Scherzo.