Foto: Antoine Jully choreografiert Antoine de Saint-Exupérys Erzählung "Der kleine Prinz" in der Exerzierhalle des Staatstheaters Oldenburg. Der kleine Prinz (Marco Russo Volpe, unten) und seine Rose (Marié Shimada, oben) am Staatstheater Oldenburg © Martina Pipprich
Text:Jens Fischer, am 14. Juni 2015
Schluss mit der melancholisch verträumten, kanonisierten Putzigkeit, her mit der Essenz des Textes. Geht es wirklich um die emotionale Nachhaltigkeit von wahrer Freundschaft und echter Liebe? Oder lassen sich bisher unbeachtete Perspektiven eröffnen in Antoine de Saint-Exupérys Erzählung „Der kleine Prinz“? Altbekannte Interpretationen frisch durchdenken, den Kitschverdacht überprüfen, die Sinnsprüche noch einmal ganz anders lesen – das ist jetzt möglich.
Seit Anfang dieses Jahres sind die Rechte an dem philosophischen Erwachsenen- und märchenhaften Kinderbüchlein frei – die einzige bisher genehmigte deutsche Übersetzung des Rauch-Verlages ist nicht mehr sakrosankt. Schon fluten Neuausgaben den Buchmarkt. Den Start in diese Phase der offenen Rezeption – feiert der Chefchoreograph des Staatstheaters Oldenburg, Antoine Jully, als Stunde Null. Mit der Uraufführung einer stummen Fassung. Als Tanztheater. Das ist nicht neu, scheint aber reizvoll: vor dem unbefangenen Neulesen noch einmal körpersprachlich das alte Personal erforschen.
Fünf Hüte werden über die Bühne gezogen. Ein pfauenhafter Recke in Pilotenjacke reicht ein Stück Kreide dem Kinderprinzen. Der unschuldig staunende Wuschelkopf malt einen Elefanten auf den Boden. Die Hüte werden über die Bühnenbegrenzung gezogen. Licht aus, Szene vorbei. Wer das Buch gelesen hat, der ist nun klar im Vorteil. Der weiß, der Mann mit der Kreide ist der Erzähler des globalen Bestellers und zeigt dem Prinzen ein in Kindheitstagen gemaltes Bild. Erwachsene dachten, es zeige einen Hut, es soll aber eine Schlage darstellen, die einen Dickhäuter verschlungen hat. Was der Prinz sofort erkennt. Er ist diese Suche nach den verlorenen Wurzeln der wunderbeseelten Kindheit, die der Autor angeblich propagiert – gegen die Phantasielosigkeit der „großen Leute“. Wer aber die Vorlage nicht kennt, ahnt von dieser Auslegung nichts.
So geht es weiter. Tänzer recken Pappbäumchen ins Spielfeld, der Prinz sammelt sie ein. Ganz lapidar. Nur Vorableser wissen, der Held muss stetig Affenbrotbaum-Unkraut entfernen, da dieses sonst seinen Heimatasteroiden zuwuchert und existenziell gefährdet. Dann wird Jully deutlicher. Das Objekt romantischer Verklärung, die rote Rose, taucht auf, erst als Requisit, dann als Tänzerin mit liebesblutglühender Halskrause und Häkelnadeln statt Dornen. Die der Prinz zärtlich entfernt. Ein hibbeliger Schmetterlinge-im-Bauch-Pas-de-deux geht über in Kabbelei, die trippelnde Angebetete zieht zickig von dannen. Aber der Prinz denkt weiter an sie. Was daran zu erkennen ist, dass immer mal wieder Rosen auf die Bühne getragen werden, die zwanghaft Streichelreflexe beim Prinzen auslösen. Und wenn Männlein und Weiblein zu eleganten Hebefiguren zusammenfinden, wird sogleich des Prinzen Rosenrequisit illuminiert, damit alle sehen, was er ersehnt.
Nacheinander werden schließlich die einsamen Figuren der einsamen Prinzenreise durch die Galaxis vorgestellt. Oldenburgs Tanzkünstler haben passende Bewegungsvokabeln für die Prototypen einstudiert. Ein mal geziert gehüpfter, mal stolzierter Eitelkeitstanz des Befehle-Königs ist zu sehen; in einem Lichtkreis wirbelt der sisyphosselige Laternenanzünder eine Leiter hinauf und hinab; taumelnd, wankend, fallend nimmt der Trinker ein Mikro in die Hand und gluckert, würgt, kotzt in Free-Jazz-Manier hinein, während die Kolleginnen mit Bechern und Händen auf einem Holztisch den Rhythmus des Hinter-die-Binde-Kippens perkussionieren. Es folgt mit tastenden Schritten füchsisch durchstartender Anbändel- und schließlich schlängelnder Schlangentanz. Besonders beeindruckend die Darbietungen von Lester René Gonzáles Álvarez: Narziss und Kaufmann bietet er mit der Galanterie eines Musicalconferenciers entzückend ironisch dar, verbindet dabei akrobatisch ballettösen Modern, Hip-Hop- und Street-Dance.
Und was ist mit dem ikonographischen Satz des Werks? „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Herzpochen ertönt diesbezüglich zum Finale, mit den Augen ist im Bühnendämmerlicht auch kaum etwas zu sehen. Zuschauer werden dorthin in einen Sitzkreis gelockt und sollen Lichtkugeln einander zurollen. Ein Roll- als Rollenspiel, um mit noch Fremden in Kontakt zu kommen. So ist das vielleicht gemeint. Wird aber nicht praktiziert. Ratzfatz müssen alle zurück auf ihren Tribünenplatz, um dort heftig applaudieren zu können. Was sie tun. Tolles Ballettensemble, klar.
Aber mit dem Erzähler sind nach der ersten Szene auch die Rahmenhandlung und alle roten Fäden verschwunden. Da zudem der Prinz vornehmlich schulterzuckend zuschaut, reiht Jully nur die Solonummern der rauschhaft Selbstbezüglichen zu einer Revue – getänzelter Buchillustrationen. Umtost von häufig allzu aufdringlicher Musik – wie in schlechten Filmen. Chance vertan für einen zupackend neugierigen Zugriff.