Foto: Frankenstein (Piotr Prochera, M.), sein Monster und die Puppenspielerinnen © Monika Forster/Musiktheater im Revier
Text:Andreas Falentin, am 28. September 2019
Dieses Werk, und ein Werk will es eindeutig sein, hinterlässt auf fast jeder Gestaltungsebene widerstreitende, zwiespältige Eindrücke. Zumal, wenn es in einer derart klar angelegten, stringenten Inszenierung präsentiert wird wie jetzt von Sebastian Schwab in Gelsenkirchen.
Das beginnt bereits mit der Gattungsbezeichnung. Der Hamburger Komponist und aktuelle Mannheimer Opernchefdramaturg Jan Dvorák nennt seinen „Frankenstein“ selbst „Oper“. Tatsächlich äußern sich die Figuren auf der Bühne überwiegend singend und werden größtenteils von Sängern dargestellt. Aber die Musik beansprucht in keinem Fall das Primat unter den Gestaltungskomponenten. Sie ist eher ein aus Jazz und Filmmusik, Pop und Musical gespeistes, traditionelle Klassik immer mal wieder zitierendes und sich gelegentlich ins Experiment vorwagendes Soundbett, dass deutlich der Handlungsvermittlung dient und (zu) oft hinter diese zurücktritt.
Dvorák bleibt eng am berühmten Roman von Mary Shelley, der vor allem durch zahlreiche Verfilmungen bekannt wurde. Um diese Geschichte verständlich zu erzählen, fügt er immer wieder erzählende Passagen aus dem Roman ein, die von den Darstellern von Frankenstein und dem Monster vorgetragen werden. Einem auch sprechenden Bariton steht eine von drei Spielerinnen geführte, nur am Anfang singende Puppe gegenüber – die wesentliche Stärke dieses Theaterentwurfs. Die Schwäche liegt in der häufigen Verdoppelung und Illustration des Handlungsgangs durch die verschiedenen Theatermittel. Viel zu oft wird erzählt, was auf einer anderen Ebene gezeigt wird oder, schlimmer, gerade gezeigt worden ist. So vermisst wirklich niemand Untertitel, aber miterleben, reflektieren kann man, bei aller Langsamkeit und Deutlichkeit, kaum im Publikum.
Ähnlicher Zwiespalt in der Musik. Die ist fantasievoll instrumentiert, gerade was die Behandlung der Streicher angeht und die Verbindungen zur Elektronik, die Flirts mit dem Geräuschhaften und die Farbigkeit. Was übrigens Giuliano Betta und die Neue Philharmonie Westfalen mit großer Delikatesse darbieten. Höhepunkte sind die Einsätze eines Vokalquartetts, das mal summt, mal Stimmgewirr erzeugt, mal klingt wie Michael Nyman, dann wieder wie die gute alte Oper persönlich. Auf der anderen Seite stellt sich viel zu oft die Frage: Warum wird auf der Bühne gerade in diesem Moment gesungen? Wo ist die Notwendigkeit, die Dringlichkeit, wie macht der Gesang Text und Drama reicher? Oft lässt Dvorák einfach deklamieren, vermittelt Informationen, indem er Briefe singen lässt oder einfache Konversationsdialoge, denen er aber keine ironische Ebene mitgibt. So sagt die Gesangslinie oft nichts über die Figur aus. Was wiederum nicht durchgängig gilt. Die Titelfigur bekommt Dvorák im Wechsel von Sprechen, Sprech-, ariosem und Ensemblegesang gut in den Griff, zieht uns gerade gegen Ende in sie hinein. Ein Höhepunkt ist Frankensteins Begegnung von mit dem sympathisch fanatischen Kapitän Walton kurz vor Schluss. In ihrem musikalischen Dialog treffen tatsächlich entgegengesetzte Prinzipien und musikalische Charaktere aufeinander. Man hört Michael Tews als Kapitän genauso atemlos zu, wie er einem in anderen Rollen fern blieb.
Womit wir bei Sebastian Schwabs Inszenierung werden. Die hat mit dem langsamen Erzähltempo genauso zu kämpfen wie mit dem Einheitsraum von Britta Tönne, der einen stilisierten Hörsaal, ein anatomisches Theater darstellt, mit einem Tor in der hinteren Bühnenmitte und einer Empore darüber. Hier lässt sich der ständige Schauplatzwechsel des Romans, das ständige Hin und Her zwischen Stadt und Landschaft, Wildnis und Zivilisation nicht versinnlichen. Aber man kann vielfältige Bilder stellen, sich verstecken, überraschend und schnell auf- und abtreten. Was Schwab hinreißend nutzt. Und mit Witz. Allerdings treten durch seine Genauigkeit und sein hervorragendes Timing einige der beschriebenen Schwächen des Stückes noch deutlicher zutage, besonders die holzschnittartige, musikalisch monotone Anlage der Nebenfiguren. Die ließe sich eventuell durch Striche in den Griff bekommen, was hier, bei der Zweitaufführung des Werkes, der ersten auf einer Guckkastenbühne aus verständlichen Gründen unterblieb.
Besonderes gelang dem Regisseur mit seinen Protagonisten. Piotr Prochera liefert sich Viktor Frankenstein aus. Sein leicht gutturaler, höhenstarker Bariton, sein leichter polnischer Akzent im Sprechen, seine Wendigkeit und seine großartige Bühnenpräsenz werden von der Inszenierung zu einem mitreißenden Porträt geformt. Die Tragik der Figur, das Leid, das größer ist als die Schuld, das der Jugend geschuldete Verhältnis zur eigenen Verantwortung werden im zweiten Teil des Abends fühl- und erlebbar, gleichsam über die Grenzen der Oper hinaus. Was genauso für das Monster gilt. Anders als in der letztjährigen Uraufführung auf Kampnagel in Hamburg hat Sebastian Schwab das Anfangslied und die Sprechpassagen des Monsters nicht einer Schauspielerin anvertraut, sondern den drei Puppenspielerinnen Evi Arnsbjerg Brygmann, Bianka Drozdik und Eileen von Hoyningen Huene von der neu gegründeten Puppenspielparte des Hauses. Das Tastende, die Brüchigkeit, die Leidenschaft und Intensität dieser Momente wird zur großen Klammer des Abends, zur Metapher für die Andersartigkeit des Monsters.
So triumphiert „Frankenstein“ am Ende trotz all seiner Schwächen. Und der anwesende Komponist wird in den deutlich begeisternden Beifall eingeschlossen.