Foto: Szene mit Alexandre López Guerra, Emma Barrowman und im Hintergrund Tsai-Chin Yu © Klaus Dilger
Text:Ulrike Kolter, am 29. Januar 2022
Wenn man im Jahr 2022 die Rekonstruktion eines Pina-Bausch Stückes aus den 90igern besuchen will, mischen sich Ehrfurcht, Neugier, zugegeben auch Zweifel: Bleibt Pinas einzigartiger, tanztheatraler Anspruch denn zeitlos, nach zwei Jahren Pandemie und in einer Bühnengegenwart, in der – zum Beispiel – Geschlechterstereotype immer seltener so eindeutig und zweifelsfrei gezeigt werden? Die endlos wallenden Haare und Kleider der Damen, barfuß, die beanzugten Herren in schwarzem Schuhwerk, denen einige Tänzerinnen wiederholt schutzsuchend in die Arme springen… Um es kurz zu halten: Ja, er bleibt es. Mann bleibt Mann und Frau bleibt Frau, auch wenn alles Dazwischen gelebt und dargestellt werden darf, soll, muss. (Aber zugegeben: Es ist wohltuend, diese tradierte Klarheit mal wieder zu erleben.)
Im Januar 1993 erlebte „Das Stück mit dem Schiff“ seine Uraufführung am Tanztheater Wuppertal, die aufwändige Neueinstudierung im November 2020 war dann pandemiebedingt für Publikum nur im Live-Stream mitzuerleben. Nun also real, unter 2G+ und mit FFP2-Maske im vollbesetzten Wuppertaler Opernhaus.
Sandstrand, aber kein Meer
Titelgebend ist Peter Papsts imposante, über und über mit gelbem Sand bedeckte Bühne, auf der im hügeligen Hintergrund in Schräglage ein riesiges Schiff festhängt. Auf dem Trockenen liegt es – und doch ist, wie so oft bei Pina Bausch, das Element Wasser immer wieder präsent, in Wassereimern, Flaschen, beregneten Vorhängen. In diesem surrealen Nirgendwo treten die Tänzerinnen und Tänzer wie Heimatlose in kurzen Szenen auf und ab: bedrückende, kraftvolle Soli mit wiederkehrenden Bewegungsabfolgen gehen über in slapstickartige und situationskomische Nummern der neuen, altersgemischten und wunderbar vielfältigen Tänzer:innen-Besetzung.
Da schält ein im Sand Liegender Kartoffeln über einer ausgebreiteten Zeitung, ein anderer rollt sich flink in seine Wolldecke zum Schläfchen ein; immer wieder werden Tänzerinnen von ihren Partnern wie Requisiten herum- oder hinausgetragen am Rückensaum ihrer Kleider hängend, oder als leblos erstarrte Figuren. Ihre Zeit ist abgelaufen, nur ausgediente Objekte sind sie noch und hoffnungslos, wie die Frau, die einen Sandhügel mit einem Wischtuch schrubbt… Akrobatische Szenen unterbrechen das Geschehen, etwa, wenn ein Tänzer Wasserglasflaschen auf einem Tisch postiert, sie besteigt, darauf stehend verharrt, wieder herabsteigt, und das Publikum ausatmet.
Spärliche Ensembles
Ensemble-Szenen sind spärlich, gerade deshalb umso eindrücklicher, wie ein minutenlanger Reihentanz am Schluss des ersten Teils. Energetischer wird es nach der Pause, Gewitter und Regen brinten Leben zurück in die Gruppe, auch musikalisch wird es südamerikanisch-rhythmischer, mit krabbelnden Tigern, radschlagenden Tänzern in Badehose, Purzelbäumen und fliegendem Sand bis in die ersten Reihen. Man tanzt an gegen die eigene Lebenstragödie – und hebelt damit die Grundstimmung des ersten Teils aus, in dem vor allem Naturgeräusche und Walter von der Vogelweides mittelhochdeutsch gesungenes Liebeslied „Unter den Linden“ mit seinem „Tandaradei“ das Strandleben melancholisch färbte.
Die israelische Choreographin Saar Magal hat als erste externe Künstlerin ein Pina-Bausch-Stück neueinstudiert, anhand von Film-Aufnahmen, vor allem aber in der Zusammenarbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern, um das Originalmaterial von damals mit deren aktuellen Erfahrungen anzureichern. „Das Stück mit dem Schiff“ im Jahr 2022 zeigt, wie relevant und beglückend solch eine Rekonstruktion sein kann, auch mit dramaturgischen Lücken, an denen das Stück in neuer Besetzung noch reifen kann. Denn so sehr sich unsere sozialen Konstrukte seit 1993 verändert haben mögen, das unperfekte, gnadenlos-verlorene Menschengefühl bleibt so, wie Pina Bausch es auf die Bühne gebracht hat.