Foto: Rigoletto mit Alter Ego: Evgueniy Alexiev und Stefan Imholz © Sarah Jonek
Text:Regine Müller, am 4. Oktober 2020
Könnte es sein, dass die kleinen und mittleren Opernhäuser die Corona-Krise künstlerisch besser meistern als die großen Operntanker? Weil sie erstens häufig einfallsreicher sind als die repräsentativen großen Häuser und weil sie zweitens viel leichter mit kleinen Besetzungen akustisch befriedigend zu füllen sind? Für die rasante „Rigoletto“-Dekonstruktion in Bielefeld jedenfalls trifft beides zu.
Auf Anna Schöttls grob gezimmerten, steil abfallenden Brettern, die an eine rustikale Bühne des Shakespeare-Zeit erinnern, steht am Anfang bloß ein Haufen alten Gerümpels: verschlissene Koffer und zerkratzte Stühle. Sie bilden später das spärliche Mobiliar, mit denen die Darsteller selbst die verschiedenen Szenarien auf der ansonsten kahlen Bühne arrangieren. Zwei hagere ältere Männer lümmeln um das Gerümpel herum, sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich und sind beide auf die gleiche Weise entstellt mit einem leichten Buckel. Rigoletto ist in Bielefeld also eine gespaltene Persönlichkeit: Der eine schreit und spricht auf Deutsch Texte aus Victor Hugos Vorlage zu Verdis Oper und Texte von Shakespeare, der andere singt Verdis Bariton-Partie auf Italienisch (mit Übertiteln). Aber zunächst bleiben beide noch stumm, aus dem Off hört man eine sanfte Sopranstimme leicht verfremdete und stark entschleunigte Passagen aus der Partie der Gilda anstimmen, was das Rigoletto-Duo schmelzen lässt vor liebevoller Rührung. Doch dann brechen die Rigolettos schnell in rasende Panik aus, in Angst um die geliebte, unschuldige Tochter, die sie im Umfeld des verderbten Hof-Gesindels in akuter Gefahr wähnen. Dann tobt im Orchestergraben ein Kammerensemble aus Streichquartett, Flöte, Klarinette, Trompete, Schlagwerk und Klavier los und bringt tatsächlich echtes Verdi-Brio zustande. Auf der Bühne gesellt sich ein Akkordeonist hinzu, spielt einige schlichte Verdi-Motive erst in flotter Gassenhauer-Manier, später unbarmherzig bohrend in Endlosschleife.
Auch im Graben zerfasert das von Michael Wilhelmi bearbeitete und mit eigenen Kompositionen angereicherte Verdi-Material unter Anne Hinrichsens souveräner Stabführung immer wieder in Loops, grelle Verzerrungen, harmonische Verrückungen und minimalistische Partikel, bevor es immer wieder zurück in die Verdi-Spur einrastet. Das klingt über weite Strecken faszinierend und nur manchmal redundant, wenn die Tonspur das dramatische Geschehen ausbremst. Die puren Verdi-Passagen leiden überraschend wenig unter der ausgehungerten Besetzung, im Gegenteil, ihre dramatische Substanz und ihre theatrale Vitalität kommen sogar umso plastischer zum Vorschein.
Auch den Plot von Verdis „Rigoletto“ hat das Team von Regisseurin Nadja Loschky stark eingedampft und verzerrt. Der Herzog kommt hier nicht als Tenor-Star auf die Bühne, sondern stumm in Gestalt des charismatischen, hochgewachsenen Tänzers, Schauspielers und Musicaldarstellers Christopher Basile auf die Bühne. Einige Phrasen der berühmten Arien des Herzogs werden teils geifernd von den Höflingen angestimmt, teils scheppert Carusos Tenor aus einem alten Grammophon. Verdis Gesangspartien schrumpfen auf etwa jeweils ein Drittel ihres Umfangs ein, einige Filetstücke bleiben glücklicherweise unangetastet und verdichten sich zu den Höhepunkten des Abends: Gildas große „Caro nome“-Arie, oder auch Rigolettos Hass-Ausbruch „Cortigiani, vil razza, dannata“. Evgueniy Alexiev singt die Titelrolle mit hell timbrierten, manchmal etwas fahlem Bariton, beglaubigt aber das schillernde Rollenkonzept des Narren, der irritierenderweise zu keiner Zeit sympathisch wird, mit jeder Faser. Veronika Lee singt eine zarte, glockenhelle Gilda, bei den Nebenrollen ragt Moon Soo Parks markant sonorer Sparafucile heraus.
Teilweise übernehmen Holzbläser die Gesangs-Passagen aus den großen Ensembles, den Duetten zwischen Gilda und ihrem Vater oder dem berühmten Quartett. Stellenweise schmerzt das, weil die raffiniert arrangierten Verdi-pur-Passagen Hunger auf mehr von diesen transparenten Klängen machen, teilweise ziehen sich auch die von Stefan Imholz hoch expressiv gestalteten Sprechpassagen des Rigoletto-Alter-Ego zu sehr in die Länge, aber insgesamt fasziniert der Abend durch seinen kühnen Zugriff, Nadja Loschkys kraftvoll intensive Personenregie und die kühne musikalische Dekonstruktion dieses Kernstücks des Repertoires, das auf diese Weise sein enormes Talent zum Kammerstück beweist.