Foto: "The House Taken Over" beim Festival in Aix-en-Provence © Patrick Berger / Artcomart
Text:Joachim Lange, am 12. Juli 2013
Im letzten Jahr war die Uraufführung, ohne die auch ein Festival wie das in Aix-en-Provence nicht auskommt, ein Volltreffer. Georges Benjanmis großformatig geheimnisvolles Opus „Written on Skin“ hat gute Chancen, via Amsterdam und München, seinen Weg ins Repertoire für Novitäten zu finden. Was heutzutage selten genug ist. Da kommt der neuerliche Versuch, von Südfrankreich aus musikalische Zeichen zu setzen, die über ein provencalisches Sommervergnügen hinausgehen, von vornherein wesentlich bescheidener daher.
Dem portugiesichen Benjamin-Schüler Vasco Mendonça (36) genügen zwei Sänger, ein kleines 13-köpfiges Orchester und gerade mal eine Stunde. Diesem Kammerspielformat enstsprechen auch der Inhalt und der musikalische Gestus. „The House Taken Over“ ist allerdings selbst bei der (wie im Falle Benjamins) in Aix-en-Provence inszenierenden britischen Regisseurin Katie Mitchell eher ein netter, nicht wirklich verstörender Psychothriller geworden. Also doch kein echtes Beispiel seiner Art. Denn man muss allzu oft schmunzeln, wo eigentlich das Grauen einer abstrusen Abhängigkeit der beiden Protagonisten voneinander und vor allem von den Schatten der Vergangenheit herrschen müsste. Doch so wie Mitchell den nicht mehr jungen Mann und seine Schwester beim zwanghaften Putzen auf dem Boden und unter dem Tisch herum kriechen lässt, erinnern dieser manische Zwang und die penibel eingehaltenen Rituale des Alltags eher an die Macken des US-Serienunikums Adrian Monck.
Die Mezzosopranistin Kitty Whately und der Bariton Oliver Dunn verkörpern in aller Betulichkeit das Geschwisterpaar Rosa und Hector. Die leben in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Hause ihrer längst verstorbenen Eltern und hangeln sich mit diesen Ersatzhandlungen durchs Leben. Es ist ein nicht gelebtes Leben, in das die Wirklichkeit in der Maske von unheimlichen, nicht erklärbaren Störungen einbricht.
In dem Libretto von Sam Holcroft nach der Novelle Casa Tomada des Argentiniers Juilo Cortázar beginnt es im Hause zu spuken. Bei Mitchell flackern die Lampen, rieselt der Putz von der Decke, beginnen die Türklinken ein Eigenleben zu führen, fallen plötzlich Bücher aus dem Regal oder eine Tasse zu Boden. Die Geschwister verlassen in wachsender Angst und Panik erst den Salon des Hauses mit dem Porträt der Eltern, dass sie sogar mit einem Tuch vor dem Ausbleichen schützen, wenn sie für kurze Zeit die Vorhänge öffnen. In der Küche dann behalten sie die gleichen Rituale bei, wie vorher im ganzen Haus. Die Zeit, die dabei übrig bleibt, macht ihnen genau solche Angst, wie das unheimliche Eigenleben des Hauses, dass sie offensichtlich nicht mehr als Bewohner dulden will. Das Ganze wiederholt sich noch einmal auf dem kleinen, ihnen noch verbleibenden Bereich vor der Eingangstür. Die Zeiträume freilich verkürzen sich von Mal zu Mal.
Die eskalierende Angst vor dem Verlust des Lebensraumes und vor dem eigentlichen Leben wird gerade im Cresendo auf das Ende hin durchaus erkennbar. Doch es bleibt mehr ein pathologischer Einzelfall, als mit dieser Geschichte das Potenzial metaphorischer Doppeldeutigkeiten auszuloten. Auch die Tatsache, dass die literarische Vorlage 1946 zu Zeiten des aufkommenden Faschismus in Agentienien entstand, bleibt gänzlich ausgeblendet. In dem Bemühen an die Kammeropern-Tradition von Schönberg, Poulenc oder Britten anzuknüpfen, bleibt diese Neuheit deutlich zurück.
Vasco Mendoças hat für dieses In-die-Ecke bzw. Aus-dem-Haus-Treiben eine bündige musikalische Eloquenz aufgeboten, für die sechs Bläser und sechs Streicher, verstärkt duch ein raffiniert aufgerüstetes Schlagwerk sorgen. Mit seinen abrupten Pointierungen bleibt es allemal nachvollziehbar und verständlich, wenn atmosphärische Störungen das Parlando durchzittern und sich das geisterhafte Erwachen geheimnisvoll spukender Kräfte im Haus ebenso zum Klang formt wie die wachsenden Panik und Angst der Geschwister vor dem Unbekannten als Crecsendo immer stärker in den Vordergrund tritt. Bei Etienne Siebens und den Instrumentalisten des Asko Schönberg Ensembles ist das in besten Händen und wird solide umgesetzt.
Die Regisseurin und ihr Bühnenbildner Alex Eales haben die begrenzten Möglichkeiten der Bühne in der romantisch verfallenen Domaine du Grand Saint-Jean vor den Toren von Aix-en-Provenc zwar puppenstubenhaft und detailverliebt wie immer genutzt. Und doch bleibt die Atmosphäre der ländlichen Umgebung immer noch eine Spur geheimnisvoller als der Bühnenspuk. Die sympathische, aber nicht weltbewegende Produktion hat auf ihrem vorgezeichneten weiteren Weg nach Luxemburg, Antwerpen und Lissabon gute Chancen, von den Möglichkeiten der Theater-Innenräume zu profitieren.