In diesem klaren, vor allem klare Distanz schaffenden optischen Umfeld legt Dietrich W. Hilsdorf eine zweite Ebene über das mythische Geschehen. Er erzählt „Kain und Abel oder der erste Mord“ – trotz des übersetzten und leicht veränderten Titels wird italienisch gesungen – als Familienaufstellung. Da haben die Eltern Lieblingssöhne (Adam-Kain, Eva-Abel), Gott, der genau wie sein Gegenspieler bei Scarlatti nur als Stimme auftritt, ist eine Art reicher Onkel, der Teufel so etwas wie eine arrogante Schwiegermutter. Erst nach gut der Hälfte der Spielzeit reißt Gott der „Schlange“ das Kostüm herunter und entblättert den Mann hinter der Bosheit.
Sechs Figuren, sechs Menschen lernen wir kennen. Alle handeln selbstbezogen und eigentlich nie nach edlen Motiven. Aber keiner ist uns unsympathisch. Das liegt natürlich an Scarlattis farbenreicher Musik, die von Rubén Dubrovsky und den sich überraschend barockaffin und –enthusiastisch zeigenden Essener Philharmonikern organisch, vor allem aber mit funkensprühender Vitalität sehr theatralisch dargeboten wird. Besonders im Ohr bleiben Kains Abschiedsarie mit obligater Doppelflöte, das geradezu hexensabbatartige Vorspiel des großen Teufelsauftritts, die elegische Quasi-Auferstehung von Abels Bewusstsein – wie in fast abartig schön gekleidete Stille gehüllter Engelsgesang – und das Schlussduett von Adam und Eva, sozusagen traumschön und widerborstig zugleich.
Der Regisseur Dietrich W. Hilsdorf hat diese 140 Minuten absolut durchgearbeitet. Alle sechs Darsteller wissen bei jeder Note, wo sie sind, was sie tun und warum sie es tun. Und man spürt, wie glücklich sie dabei sind. Dazu setzt Hilsdorf klare interpretatorische Akzente, die aber nie die erzählerische Linie sprengen. Da begründen etwa Gott und der Teufel mit Kruzifix und Barockmalerei gemeinsam eine Art Ikonographie des Christentums um Adam und Eva über den Verlust ihrer beiden Söhne hinwegzutrösten. Genau hier, beim ersten Paar, gelingt das Besondere. Mörder, Opfer und mythische Figuren funktionieren bekanntlich von jeher auf der Opernbühne. Aber Adam und Eva sind bei Scarlatti einfach nur da, nölen in schönen Tönen über ihre Schuld und ihre Liebe zu ihren Kindern, handeln aber nie, denn wir sind ja in einem Oratorium. Das wenige, was gehandelt wird – opfern, morden, erlauben, bestrafen, verführen, verheißen – machen die anderen. In Essen aber sind Adam und Eva auch ein Zentrum der Aufführung. Weil Hilsdorf die Figuren klar definiert. Nicht nur, weil Adam am Stock geht; vermutlich hat er sich kaputt gearbeitet, weil er es im Paradies nicht gewohnt war oder ist schlicht ein Drückeberger. Oder weil Eva – „unter Schmerzen sollst du Kinder gebären“ – dauerschwanger ist, ohne weiter Kinder bekommen zu dürfen. Hilsdorf baut mit der Sopranistin Tamara Banjesevic und dem Tenor Dmitry Ivanchey, die beide außergewöhnlich nuanciert, farbenreich und intonationsrein gestalten, aus diesen Grundtypen, aus kleinen Gefühlsausbrüchen, aus An- und Abstoßungen eine Beziehung, die uns berührt, momentweise geradezu mitnimmt und den Schluss, das schlichte Bekenntnis weiterzuleben, wirklich wie eine Apotheose erscheinen lässt.
Auch in den anderen Rollen besonderes: der anfangs musikalisch sich noch etwas vortastende Philipp Mathmann mit ätherisch schönem Counter-Sopran und klarem, prägnanten Spiel; Bettina Ranch als Kain mit federnder Energie, gewaltiger, höchst elegant gefasster Bühnenpräsenz und klug eingesetzter, etwas monochromer aber sehr klangschöner Alt-Tiefe; Baurzhan Anderzhanov mit großer Spielfreude und überwältigend sympathisch timbriertem Teufels-Bass; Schließlich Xavier Sabata als Gott mit Countertenor-Stimme: Fokussiert im Gesang, mit explosiven Machtverlautbarungen, souverän im Spiel mit wie Pointen eingesetzten Energieschüben oder geradezu akrobatischen Momenten.
Ein perfektes Ensemble in einer großartigen Aufführung, die sogar fantastisch klingt im riesigen Aalto-Theater: klar, transparent, trocken, aber nicht zu trocken. Weil alle Beteiligten miteinander etwas Besonderes schaffen wollen. Weil Dirigent und Regisseur spürbar gemeinsam unterwegs sind. Und weil der Bühnenbildner Dieter Richter es wieder einmal geschafft hat, mit seiner Idee eines Theaterraumes die Akustik einer Aufführung positiv zu prägen.