Dafür präsentiert er ein anschauliches Beispiel: Er spielt ein deutsches Lied ab, das ein Vertriebener nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Heimat mitgebracht hat. Zahn ist zufällig im ethnologischen Tonarchiv darauf gestoßen. Das Lied sei 1946 extrem populär gewesen, man habe es über Briefe weiterverbreitet, um eine kollektive Erinnerung zu bewahren. „Dort wo Ährenfelder rauschen, dort, ja dort war ich zuhaus. Wo die Theiß in die Donau schlängelt, steht mein liebes Vaterhaus“, singt der Vertriebene mit fremd klingendem Dialekt. Und: „Alles was wird hier gestohlen, hat der Flüchtling nur getan. Ja, man sieht uns nur als Diebe und verkommne Menschen an.“
Zahns Großeltern, schreibt er in die Pop-Ups, seien ebenfalls Geflüchtete aus Osteuropa gewesen – doch er habe dieses Lied zuvor noch nie gehört. Wie also ist es ins kollektive Vergessen geraten, wenn sogar der Aufwand betrieben wurde, es einsingen zu lassen, später sogar zu digitalisieren? Eine Handvoll Techniken des sozialen Vergessens stellt uns Zahn innerhalb von 45 Minuten vor, darunter das Delegieren (eine Aufnahme wird angefertigt, man selbst darf vergessen), das Konvertieren (im digitalen Archiv sind ungeklärte Lücken auszumachen) und das „Spamming“.
Letzteres ist für die digitale Performance zentral – denn heißt es nicht: „Das Netz vergisst nichts?“ Aufklärung von der Soziologin Elena Esposito, die Zahn per Video einspielt: Das Netz könne durch die Vermehrung von Daten „vergessen“ gemacht werden – so hohe Datenmengen, bis Informationen nicht mehr zugeordnet werden können. Ein einziges Rauschen bleibt.
Und also endet Zahns kleines, ästhetisch arg karges Gedankenspiel mit einem Lob an alle „Spamer*innen“ – ihnen möchte er ein Denkmal errichten, denn sie tragen zum sozialen Vergessen bei. Zuletzt werden wir Zeugen, wie er so viele Zeilen in der Programmiersprache der Lied-Datei löscht, dass auch davon nichts als Rauschen zu hören bleibt.
Zahn darf natürlich die Haltung vertreten, die eigene Vergangenheit abschließen zu wollen. Vergessen als heilsam wahrzunehmen – und so zu tun, als könnte die Menschheit morgen auf einem weißen Blatt Papier neu beginnen. Vergessen, das heißt eben auch: sich in der dritten Generation nicht mehr als „Vertriebener“ fühlen, sondern als Deutscher. Auch seine kleine Forschungsreise zu den Techniken des sozialen Vergessens ist nicht uninteressant.
Aber die Inszenierung pflegt doch eine sehr schmale Sicht aufs Thema soziale Erinnerung. Wann wird Vergessen kollektiv gestattet – und wann nicht? Und vor allem: Wem wird es gestattet? Sind „Opfer“ und „Täter“ hier wirklich in ähnlicher Position? Sind es nicht ohnehin die „Sieger“, die ihre Geschichtsschreibung kollektiv verbreiten – während die der „Besiegten“ ins Vergessen gerät? Wer will vergessen – und wer profitiert vom Vergessen? Möchten auch vertriebene Roma, geflüchtete Jüdinnen in der dritten oder vierten Generation die Geschichten ihrer Großeltern nicht mehr kennen?
Nicht, dass eine einzige Inszenierung all diese Fragen beantworten könnte. Doch den Raum, diese Fragen zu stellen, könnte sie allemal öffnen.
„Lob des Vergessens, Teil 2“ wurde erstmals am 5. Juni 2020 beim Impulse Festival gezeigt (Anm. d. Red.).