Foto: Starkes Ensemble bei Roland Schimmelpfennigs "Odyssee" in Dresden © Sebastian Hoppe
Text:Tobias Prüwer, am 16. September 2018
„Sie flüstert von Aufbruch.“ Das Licht erlischt. Eos, die Morgenröte, zeigt sich kein letztes Mal. Motive des Menschen als Getriebenem, als heimatlosem Flüchtling, als sinnlos Drängendem hallen in der Dunkelheit nach. Kein Held kehrt nach Ithaka zurück. Ob Odysseus überhaupt sein Inselreich wieder betreten hat, bleibt im Vagen. Hätte er doch lieber Lehrer statt Städteschleifer werden sollen? Versöhnungslos endet Roland Schimmelpfennigs „Odyssee“, deren Uraufführung Tilmann Köhler am Staatsschauspiel Dresden besorgte. Dabei trifft ein kluger Text auf eine ebenso kundige Regie und starke Besetzung. Daraus entsteht ein agiler Sprechtheaterabend, der allein von kleinen szenischen Gesten und dynamischem Vortrag lebt.
Wer spricht? Ein zentrales Thema in Roland Schimmelpfennigs Theaterarbeiten ist das Aufbrechen von narrativen Strukturen. Statt geradlinigem Erzählen geht es ihm um Rollen- und Ebenenwechsel und das Verschieben, ja Verwischen der Erzählerposition. Da eignet sich Homers Stoff, der seinen Odysseus ja Münchhausen gleich am eigenen Mythos stricken lässt, bestens für diesen Autorenzugriff. Die daheimgebliebene Königin Penelope hat keine Kunde von Odysseus. Er will nicht wiederkommen, vermutet sie. Sie geht irgendwann eine heimliche Liaison mit einem Lehrer ein. Bei ihren amourösen Treffen auf der Rückbank seines Kleinwagens erfindet er Geschichten, welche ungeheuren Gefahren Odysseus mutmaßlich von der Heimkehr abgehalten haben könnten. Weil nie eine Person klar in einer Rolle auftritt, verschwimmt allmählich, was stringente Geschichte ist, was Traum, Fantasie und ob jenseits des narrativen Mäanderns überhaupt etwas Reales existiert.
Karoly Risz‘ Bühne bleibt fast komplett leer. Das Publikum schaut ins Innere eines holzgetäfelten Würfels, der fast schon wie ein Spielbrett aus Holzquadraten konstruiert ist. Über dieses Tableau bewegt sich das Ensemble, bestehend aus Luise Aschenbrenner, Albrecht Goette, Eva Hüster, Moritz Kienemann, Hannelore Koch, Philipp Lux, Karina Plachetk und Matthias Reichwald. Die Spieler sprechen wechselnd und gemeinsam die Rollen, mal berichten sie aus der Ich-Perspektive, dann in dritter Person. Dialoge deuten ein vermeintliches Hier und Jetzt an, dann ist man wieder weit weg. Handlungs- und Sprechorte werden knapp wie Kapitelüberschriften aufgesagt, schon wechselt wieder die Position. Zum Schluss treten zwei weitere Schauspieler hinzu, die kurz als Odysseus und Penelope personifiziert erscheinen. Doch sogleich mischen sich die Charakterkarten wieder neu. Dass das nicht ermüdend wirkt, liegt am hoch konzentrierten Vortrag aller sechs Darsteller. Präzise werden die Worte gesprochen, erklingen aber ganz ungekünstelt. Miniaturen von Spielszenen oder besser: Szenische Gesten unterstreichen das gesprochene Wort. Da die Sprecher ihre Positionen auf dem Spiel permanent ändern, mal kollektiv, mal vereinzelt unterwegs sind, entsteht gar nicht erst ein Anflug von statischem Theater an der Rampe. Ihr Spiel schafft intensive Momente. Besonders anrührend ist ihr leiser, sphärischer Chorgesang, immer wenn die Göttin der Morgenröte mit strahlendem Lichtkegel erscheint: Sie künden von brüchiger Aufbruchsstimmung. Als die Bühne dann schlussendlich aufreißt, um den gestirnten Himmel zu zeigen, ist der spektakuläre Überraschungsmoment schließlich perfekt. Bis sich der Bühnenkasten wieder schließt. Klappe zu, Odysseus tot?
Im antiken Mythos geht es um Heimkehr, hier ums Nicht-Ankommen und die Perspektive der Zurückgelassenen. Aber auch das Nicht-Handeln wird thematisiert, wenn Penelope keinen Willen zur Entscheidung aufbringt, sich fest an den Lehrer zu binden. Oder Soldaten nach ihrer Troja-Eroberung allen Drang zum Aufbruch zu alten Ufern vermissen lassen. Die Motive des Umherirrenden und des Fortschrittsmenschen, als den Adorno und Horkheimer Odysseus identifizierten, führt Schimmelpfennig hier zusammen. Irgendwann machen sich die Soldaten doch auf, weil TV und Bier rufen und der Geräteschuppen endlich fertig gebaut werden muss. Schimmelpfennig entwirft einen frei assoziativen Erfahrungsraum, mit losen Anklängen an die Gegenwart und Migration als Normalfall der Historie. Die Eroberer erscheinen plötzlich als Flüchtlinge, die Angst vor ihrer Überfahrt übers Mittelmeer haben. Furcht vorm Aufbruch, vor der Reise und dem Ankommen. Was erwartet sie? Und was soll das eigentlich sein, Heimat?
Diese und viele weitere Fragen werden im Stück verhandelt, aber zum Glück nie aufdringlich, geschweige denn eindimensional. Um Antworten geht es im permanenten Perspektivwechsel der Erzählungen nicht, vielmehr steht dieser selbst im Zentrum. Und vielleicht eine Einsicht: Alles Menschliche ist in Geschichten verstrickt.