Foto: Mark Tumba und Ensemble in „NSU 2.0: Der Film“ © Jessica Schäfer
Text:Tobias Prüwer, am 15. Mai 2021
„Heißt es, es ist vorbei?“ – „Wir haben fünf Jahre in den Abgrund einer Behörde geschaut.“ – „Wo fängt NSU 2.0 an?“ Was Nuran David Calis aufschichtet, ist schwer auszuhalten. Fürs Frankfurter Schauspiel hat er einen semi-dokumentarischen Abend inszeniert, der sich mit dem Rechtsterrorismus der vergangenen Jahre auseinandersetzt. Gemäß der Natur der Sache kommen hier nicht nur blutige Gewalttaten und Morde zur Sprache, sondern Tatsachen, die die Medien „Einzelfälle“, „Schlappe“ oder „Behördenversagen“ nennen. Calis‘ Aufschichtung vieler solcher „Pannen“ allerdings erzeugt ein Gefühl tiefergreifender Verunsicherung.
„NSU 2.0: Der Film“ ist die Streamingversion des pandemiebedingt verschobenen Stücks. Mit NSU 2.0 waren Drohschreiben unterzeichnet, die seit 2018 an 32 Adressatinnen versendet wurden. Sie gingen an Politiker, Anwälte von Opfern rechter Gewalt und antifaschistisch Engagierte. Zum Teil wurden ihre nicht öffentlichen Adressdaten zuvor bei Polizeidienststellen abgefragt. Bei den Ermittlungen wurde ein Netzwerk von 70 mutmaßlich extrem rechten Polizisten entdeckt. Doch bleibt das Stück nicht an diesem konkreten Vorfall stehen, sondern gräbt weiter. So werden der NSU und der Prozess thematisiert, der so viele Leerstellen ließ. Das Netzwerk um das Terror-Trio herum wurde nie aufgeklärt. Erst diese Woche verweigerte die hessische Landesregierung die Offenlegung der geheimen NSU-Akten. Der Mord an Walter Lübcke wird angesprochen, ebenso der Terror von Hanau.
Der Film bedient sich allein dem Format der Talking Heads. Die meiste Zeit wechselt die Kameraperspektive in einer aus braunem Furnier gestalteten Bürolandschaft mit Fenster von Sprecher zu Sprecher. Drei Schauspielende – Torsten Flassig, Lotte Schubert, Mark Tumba – sagen die Texte auf. Möglichkeiten zum Spiel haben sie fast gar keine. Umso mehr müssen sie mit ihrer Mimik arbeiten. Wenn sie Texte von rechten Tätern sprechen, senken sie ihre Augenlider, worauf leer und starr wirkende Augen gemalt sind. Das hat einen distanzierenden Entfremdungseffekt. Ansonsten sprechen sie in klarem, ruhigem Ton und mit festem Blick. Denn die inhaltliche Wucht allein reicht aus, das braucht kein dramatisierendes Ausagieren. Dramaturgisch passiert nicht viel in diesem Kammerspiel, das vom skandalösen Inhalt lebt.
So entsteht eine dichte Textcollage, die auf der Bühne sicherlich noch etwas direkter und wirkungsvoller wäre. Aber auch digital vermittelt lässt das Gesagte nicht kalt. Zusätzlich werden ebenfalls als Talking Heads Personen eingeblendet, die Drohbriefe des NSU 2.0 erhielten. Das durchbricht die Perspektive der Täter beziehungsweise, dass die Aufmerksamkeit allein auf den Tätern ruht. Auch die Ermordeten bekommen Namen und Gesichter. Der Terror wird kontextualisiert, indem auf den gesellschaftlichen Resonanzboden und anheizende Tendenzen Bezug genommen wird. Dabei tritt die diskursive Verstricktheit zutage, wenn Seehofer von der „letzen Patrone“ spricht, mit der er sich gegen eine Einwanderungsgesellschaft zur Wehr setzt, oder Gauland droht: „Wir werden sie jagen!“
Erst am Ende, wenn die Drei den Terror von Hanau schildern, haben sie Raum zum Spiel. Während sie die Vorgeschichte rekonstruieren und den Tathergang schildern, beschreiben sie mit Textmarkern die weißen Wände einer Art Aufenthaltsraum. Nun überschlagen sich die Stimmen, steuern wie auf einen Höhepunkt zu: Es findet wegen Selbsttötung des Täters von Hanau kein Gerichtsverfahren statt, der NSU sei laut Gerichtssprecher „aufgelöst“. Und er werde wiederkommen, wenn sich die Gesellschaft wieder in falscher Sicherheit wiegt, so das Schlusswort.
Das starke Stück drängt auf ein Hin- statt Wegschauen, auf Strukturen, Akteure und ein Klima, das rechten Terror befördert. Es ist eine Anklage gegen alle Verharmloser und Abwiegler. Natürlich wird der Film die Verhältnisse nicht ändern können, das sagen die Schauspielenden in einem selbstreflektierenden Moment auch selbst. Den werden wieder nur jene schauen, die sich der Probleme mehr oder weniger bewusst sind. Aber was soll man sonst machen. Wie aktuell der Stoff ist, konnte man Anfang Mai erleben. Da nahm die Polizei einen Mann fest, den sie als Verfasser der NSU 2.0-Drohungen verdächtigt. Er habe keinerlei Kontakte zu den Polizeirevieren gehabt. Die Behörden sprechen von einem „Einzeltäter“.
Nach dem Ticketkauf ist der Film noch bis zum 11.06.2021 hier verfügbar.