Der Episoden-Inhalt soll nur angedeutet werden, denn der Abend lebt vor allem von narrativen Wendungen und Überraschungen. Nach einer Apokalypse sind die Überlebenden in der Glasglocke Mytopia gefangen. Ihr Schicksal wird von einem Algorithmus gelenkt, „große Wohltäterin“ nennt sich die Autokratin, die allem vorsteht. Wer nicht spurt, wird lobotomiert. Nachdem die Rebellen – die „Hyänen“ – in der ersten Episode das rettende Raumschiff zerstört haben, wird ein neues konstruiert. Damit sollen die Umsieldlungspläne auf einen bewohnbaren Planeten endlich umgesetzt werden. Ein Kind, dem der Algorithmus besondere Bedeutung zuweist, wird geboren und sofort entführt. Während die Hyänen an einer neuen Waffe basteln, sucht der humanistische Reformwiderstand („Zirkel der weißen Lilie“) nach Mitteln, um dem Dilemma des Pazifismus zu entkommen.
Schablonenhafte Figuren
Ähnlich grob spielt sich die Handlung flott auf leerer schwarzer Bühne ab. Durch einen mit grauem Vorhang verhängten Rundbogen und Seiteneingängen links und rechts treten die Darstellenden in kurzen dialogischen Spielszenen auf, sogleich folgt die nächste, in die elektronische Musik wie ein schneller Schnitt überleitet. Auch das schablonenhaft wirkende Spiel hat Filmserienanklang. Wirkliche Charaktere sind nicht zu sehen, sondern auf einige Merkmale herunter gebrochene Figuren. Die Anführerin strahlt stets charismatisch und spricht mit starker Stimme. Der edelmütige Philanthrop hat immer ein weises Lächeln aufgelegt. Sich in dieser spielerischen Begrenzung zu halten, gelingt allen Schauspielern gut. Niemand bricht aus, sodass der schablonenhafte Gesamteindruck von Bestand ist.
Natürlich werden, wie in allen Dystopien, Fragen nach Menschlichkeit und Freiheit, dem guten Leben und gesellschaftlicher Organisation verhandelt. Wo aber die Literatur auf die Kraft fantastischer Beschreibung, der Film auf Animationen und das Computerspiel auf Interaktion bauen kann, bleibt der Abend hier blass. Die Theatermittel bleiben ungenutzt. Nur am Anfang, wo man unmittelbar einer Autopsie beiwohnt, kommen sie zum Einsatz. Es spritzt bis in die erste Reihe dieses anatomischen Theaters, wenn Skalpell und Rippenschere angesetzt werden.
Ins-Gespräch-Kommen des Publikums als Clou
Es geht dem Team von Regisseur Manuel Kressin ums Vorantreiben der Handlung, denn die hat das Publikum mitgestaltet. Nach den Aufführungen der ersten Episode konnten sich die Zuschauer in drei Gruppen aufteilen. Als Regierungstreue, Hyänen oder Lilien-Reformer diskutierten sie separat die Vorgehensweisen für die Fortsetzung, die das Regieteam umsetzte. Das passierte auch nach der zweiten Folge, wo man beriet, wie es mit dem Sequel Anfang nächster Spielzeit weitergehen soll. Muss man radikaler werden? Oder einsichtiger? Da landeten etwa die Humanisten bei grundsätzlichen Fragen, wie man mit Gewalt zur Gewaltlosigkeit kommt.
Die Publikumseinbindung ist der Clou der harmlosen Dystopie. Es geht weniger um eine ausgeklügelte Story, wenn die großen Fragen der Zeit – wie viel Diktatur darf es sein, wer ist der wahre Wohltäter – hier spielerisch im Kleinen verhandelt werden. Das Ins-Gespräch-Kommen bildet das überzeugende Element des Abends. Gewiss, es diskutieren nur Theatergänger unter sich. Aber auch bei ihnen ist Meinungsspektrum breiter, als manchmal angenommen, wie das Format beweist.