Besondere Beziehungen in Gera
Aber Coppélia ist doch noch mal etwas ganz Besonderes: Sie sieht nicht nur reizend aus, sondern kann dank künstlicher Intelligenz auch lernen, sich fortentwickeln. Coppelius ist ihr Baumeister – kein einsamer Tüftler, sondern Uni-Lehrmeister, der seine neueste Schöpfung in den Hörsaal mitbringt. Swanilda, seine Assistentin, unterstützt ihn, die Studierenden (darunter den klugen Franz) im Zaum zu halten.
Alle Figuren des Librettos sind da in Schröders „Coppélia“-Inszenierung am Theater Altenburg-Gera. Doch die Konstellation hat sich gravierend geändert: Swanilda und Franz sind kein Paar und sollen es auch nicht werden. Damit ist der wesentliche Handlungsstrang des Originals zerstört. Es muss eine neue Handlung aufgebaut werden: Franz etwa hat eine leichte körperliche Einschränkung, einen Tick. Schröder verwendet einige Zeit darauf, ihn als klugen Einzelkämpfer, als Außenseiter seiner Seminargruppe einzuführen. Feinfühlig seziert sie die Mechanismen von Schulhofmobbing mit den Mitteln des Balletts. Auch Coppelius und Swanilda sind mehr als Chef und technische Assistentin. Sie führen eine irgendwie toxische Beziehung: Swanilda wird herumgestoßen vom gehbehinderten Lehrmeister. Er will sie nach einem Bild formen, dem sie nicht gerecht werden kann.
Die Schöpfung Coppélia kommt allen Dreien da irgendwie recht, nicht nur als Faszinosum und Spielzeug wie für die Studierendenschaft. Sie wird zur Projektionsfigur für gelingende Partnerschaft, die freilich in jedem Fall anders aussieht. Während sich Coppelius nun endlich den gehorsamen und dienstbeflissenen „Menschen“ an seiner Seite zu schaffen gedenkt, der Swanilda nicht sein will, ist die Puppe für die andere zunächst gleichermaßen Gefährtin und Vorbild – wie könnte sie selbst so perfekt werden wie dieses künstliche Geschöpf? Franz hingegen begegnet Coppélia mit freundschaftlichem Wohlwollen.
Musik und Tanz im Übergang
Und Coppélia? Dank ihrer eingebauten Intelligenz kann sie lernen, allen alles zu sein – Dienerin, Gefährtin, Freundin. Sie tanzt Pas de deux und lernt dabei von jedem Partner. Sie ahmt nach, entwickelt sich, ist auch mal überfordert, reagiert mit Übersprunghandlungen wie einem unbeholfenen Kratzen oder mit kindlichem Trotz. Zusätzlich zur Partitur unterlegt Schröder diesen Teil mit beinahe filmhafter Musik von Francis Poulenc: Die Musik wird moderner, während Coppélia lernt. Das Orchester unter Yury Ilinov gestaltet diesen Übergang beinahe unmerklich, ohne Brüche.
Dies alles wird vor allem von den vier Solisten tänzerisch auf höchstem Niveau und mit breitem Bewegungsrepertoire vorgeführt. Jéssica Rett ist eine Coppélia, die immerfort höchst präzise gleichzeitig unten Spitze tanzt und oben die roboterartigen Bewegungen des Breakdance vollführt. Weil sie ihre Muskeln auch bis ins Gesicht hinein beherrscht, gewinnt sie durch Mimik zunehmend an Liebreiz (und nebenbei muss man dem gesamten Ensemble des Thüringischen Staatsballetts auch wunderbares schauspielerisches Geschick zusprechen). Carlos Eduarda Boeira als Coppelius wechselt von Rollstuhl und Gehstock in wundervoll dynamische Bewegungen, wann immer er die Durchsetzung seines Willens gefährdet sieht. Anderson Patrick Nascimento de Lima verkörpert den zurückgezogenen Außenseiter, der in der Begegnung mit Coppélia aufblüht. Und Yuri Hamano als Swanilda darf man bei einem langen Kampf mit Selbst- und Fremdbild beiwohnen: Die Befreiung, die sie zum Schluss hin erfahren wird, hat sie sich redlich verdient.
Mut beim Thüringer Ballett
Apropos Schluss: Der wirkt ein bisschen verkitscht. Mag sein, dass man mit der Entgegensetzung von künstlicher Welt und Natur dann doch wieder ganz nah an Hofmann und den anderen Romantikern dran ist. Aber tut das Not in dieser Plakativität? Hier verdichten sich die Restzweifel, ob man die Handlung so heftig umbauen musste, dass sich jeder rote Faden verliert. Die hatten sich spätestens mit Beginn des zweiten Aktes zunehmend angeschlichen: Weil man den Träumen eines Coppelius im Drogenrausch folgen sollte. Weil der zunächst mühevoll als Figur aufgebaute Franz nach der Pause quasi keine Rolle mehr spielt (außer im Drogentraum). Weil Swanilda reichlich spät einfällt, dass man eine Puppe, die man anschaltet, auch wieder ausschalten kann.
So bleibt ein eigentümlicher Eindruck zurück von tänzerische Brillanz bei inhaltlichen Schwächen. Doch im Gesamturteil überwiegt der Mut, das klassische Ballett in die Postmoderne überführt zu haben. Und wenn man so will: Die ist ja manchmal auch ein wenig wirr.