Foto: Xenia Snagowski als einsame Tochter in "Das Leben ist kein Fahrrad". © Thomas Aurin
Text:Stefan Keim, am 5. Dezember 2011
Als Chronistin des Balkankrieges wurde Biljana Srbljanovic Ende der neunziger Jahre bekannt. Heute ist sie 41 Jahre alt, ihre Theatertexte werden nun in Deutschland uraufgeführt, nicht mehr in Belgrad. Der Tod ihres Vaters war Anregung zu ihrem neuen Stück „Das Leben ist kein Fahrrad“, einem Auftragswerk des Bochumer Schauspielhauses. Es geht um Väter und Töchter, es handelt sich aber zugleich um ein boshaftes Gesellschaftsporträt.
Der Mann war ein brutaler Patriarch. Er hat seine Tochter verprügelt und Hunden zum Spaß brennende Zigarren in den Hintern geschoben. Jetzt ist er 80 Jahre alt und schwer krank. Seine Tochter Nadezda bringt ihn ins Krankenhaus. Gegen seinen Willen, sie muss ihn überreden wie ein kleines Kind. Es ist das Militärkrankenhaus, das in Belgrad als das beste gilt.
Nadezdas Blick ist kalt und genervt. Sie explodiert oft – und ist eine Wiedergängerin der Autorin Biljana Srbljanovic. Ihr Vater ist vor kurzem gestorben, im Stück „Das Leben ist kein Fahrrad“ verarbeitet sie eigene Erlebnisse. Doch über eine autobiographische Geschichte geht die serbische Dramatikern weit hinaus. Sie verzahnt drei Handlungsstränge über Eltern und ihre Kinder. Einer der Ärzte ist 50, frisch geschieden, und wohnt wieder bei seiner Mutter. Die ist Politikerin, hat alle Gefühle als Schwäche definiert und hinter einem undurchdringbaren Panzer versteckt. Anke Zillich porträtiert eine dominante Frau, die viel Kraft braucht, um ihre Fassade aufrecht zu erhalten und niemanden in ihr Inneres blicken lässt, nicht einmal sich selbst. Außerdem gibt es noch eine 16-Jährige, die gerade weibliche Rundungen kriegt und deshalb in der Schule gemobbt wird. Ihre Eltern lassen sie völlig allein, sie hat sich einen Ersatzpapi ausgesucht, an dem sie ihre neuen Reize ausprobiert.
Nicht nur in der einsamen Geburtstagsfeier der 16-Jährigen, auch in den anderen Szenen des Stückes taucht manchmal das Ethno-Jazztrio Kapelsky auf. Sie unterfüttern die Aufführung mit sehnsuchtsvollem Balkansound und geben ihr zugleich eine surreale Note. Bühnenbildner Raimund Bauer hat einen gemeinsamen Raum für alle drei Handlungsebenen entworfen. Zwei Krankenbetten, ein Sofa, ein Schreibtisch geben den Schauspielern die Möglichkeit, konkret und psychologisch zu agieren. Der Boden ist mit weißen Leuchtstoffröhren übersät. Das sind einerseits Stolperfallen, die zu naturalistisches Spiel verhindern. Außerdem tauchen sie die Bühne in gnadenlos grelles Licht, dem niemand entkommen kann. Das entspricht dem Blick der Autorin, die private Geschichten zu einem traurigen und bösen Gesellschaftspanorama zusammenfügt. Und dabei die Dialoge so pointiert geschrieben hat, dass sie sarkastischen Witz entwickeln. Alle suchen nach Nähe und haben dabei ihre Stacheln so weit ausgefahren, dass niemand an sie heran kommt. Die überragende Xenia Snagowski spielt Tochter Nadezda ebenso wütend wie verletzbar. Aber gerade wenn ihr etwas nahe geht wie der Tod ihres Vaters, beißt sie jeden weg, der in ihre Nähe kommt.
Das Stück endet mit einer kurzen geisterhaften Szene. Der tote Vater – sehr facettenreich von Dieter Hufschmidt verkörpert – tritt noch einmal auf, im dunklen Anzug. Er setzt sich zu Nadezda, legt seine Hand auf ihre und sagt nur einen Satz: „Ach, Kind, du findest dich im Leben einfach nicht zurecht.“ Das soll tröstend wirken, aber es ist vernichtend. Die Quintessenz einer nicht vorhandenen Vater-Tochter-Beziehung. „Das Leben ist kein Fahrrad“ ist ein packendes Stück über gepanzerte Seelen. In Bochum hat es Regisseur und Intendant Anselm Weber mit einem ausgezeichneten Ensemble perfekt umgesetzt.