Oper oder Oratorium?
Zu Anfang erblickt man die Instrumentalisten auf dem emporgefahrenen Orchestergraben auf Bühnenhöhe, dahinter sind die Stühle für den Chor aufgestellt: wie bei der konzertanten Aufführung eines Oratoriums. Die auf eine etwas altmodische Art ziemlich schicken Abendroben der Chorsänger aber erwecken sofort den Verdacht, dass da die Kostümabteilung ihre Hände im Spiel hatte. Und die Solosänger benehmen sich keineswegs wie Konzertsolisten: Eine von ihnen gibt sich aufmüpfig wie ein Backfisch; eine andere ist als Mann geschminkt und ein ziemliches Nervenbündel. Und der Bariton mimt ziemlich klar den Chef der Chose.
Man vermutet natürlich schnell, dass die patzige Frau nur Semele sein kann, der Hausvater nur Kadmos und das Nervenbündel nur der unglücklich in Semele verliebte Athamas. Als dann aber anstelle von Jupiters Adler, der Semele zu entführen hätte, US-amerikanische Kampfjets an dem Himmel auftauchen, den der Videomacher Andreas Beer auf die rückwärtige Holzwand projiziert hat – da ahnt man, dass Lawless und sein äußerst bildfreudiger Ausstatter Ashley Martin Davis noch ganz andere Trümpfe im Ärmel haben als das ironische Quidproquo zwischen Oper und Oratorium.
Die beiden überraschen das Publikum im Lübecker Theater mit einer historischen Travestie: Aus Jupiter wird John F. Kennedy und aus Semele Marilyn Monroe, die zumindest gerüchteweise auch mal was mit dem US-Präsidenten gehabt haben soll. Die intrigante Göttergattin Juno aber mutiert zur First Lady Jacqueline. Und so wie Juno der armen Semele einflüstert, sie möge doch Jupiter dazu bringen, sich ihr in seiner wahren Gestalt zu zeigen, auf dass die Nebenbuhlerin in dessen Strahlen vergehe – so bringt Jacqueline die Marilyn auf die Idee, JFK müsse sich in der Öffentlichkeit zu ihr zu bekennen, in der Erwartung, dass sie an dem öffentlichen Druck, der dann unweigerlich über sie hereinbricht, zerbrechen werde. So kommt es dann auch. Anstelle des blitzeschleudernden Gottes bringen die Blitzlichter der Paparazzi Semele/Marilyn zur Strecke.
Aktualität mit Verfallsdatum
Lawless erzählt das alles, mit vielen kleinen Witzchen im Detail und einer ausgefeilten Personenführung, durchaus unterhaltsam. Aber dass man am Ende tiefere Einsichten über Götterherrlichkeit und Menschenschicksal mit nach Hause nähme, kann man der Inszenierung nicht unbedingt nachsagen. Und wenn einem dann auch noch in den Sinn kommt, wer aktuell gerade das Weiße Haus übernimmt, dann spürt man allzu deutlich, wie schnell eine aktualisierende Inszenierung wie diese von der Aktualität überholt werden kann.
Sei’s drum, das Publikum war begeistert. Und dafür gab es zumindest musikalisch die allerbesten Gründe. Barockoper am Stadttheater hat es ja heutzutage, wo jedermann den barocken „Originalklang“ eines Nikolaus Harnoncourt oder Elliot Gardiner im Ohr hat, schwer. Denn an die heute stilprägenden Ensembles mit ihren Originalinstrumenten und ihrer Vertrautheit mit historischen Artikulationsweisen können die Theaterorchester, die heute Händel, morgen Wagner und übermorgen Weill spielen, nicht herankommen. Sie können sich aber informieren, wie man sowas spielt. Und eine solche „historisch informierte“ Aufführung ist den Lübecker Philharmonikern unter ihrem Dirigenten Takahiro Nagasaki auf sehr hohem Niveau gelungen. Das Orchester spielt schlank im Klang, fast ohne Vibrato, transparent und klar in den Stimmen. Und auch die Sängerinnen und Sänger hat Nagasaki ausgezeichnet in die barocke Stilistik eingearbeitet.
Nicht mal der „Eiserne“ stoppte den Jubel
Wie die 26-jährige kanadische Sopranistin Sophie Naubert die Marilyn-Behauptung von Lawless beglaubigt, ist umwerfend: Das ist mehr als nur eine gewisse Ähnlichkeit, das ist eine temperamentsprühende Anverwandlung! Noch atemberaubender aber ist ihre vokale Leistung: Naubert hat eine schlanke, glockenklar perlende Stimme. Und sie absolviert, von Nagasaki in den Tempi und der Dynamik geradezu fürsorglich getragen, den Koloratur-Parcours dieser Partie mit einer seriösen Virtuosität, die man einer so jungen Künstlerin kaum zutraut: gestochen klar in der Linienführung, wunderschön plastisch und delikat ausformuliert. Das Publikum lag ihr zu Füßen.
Laila Salome Fischer liegt die Partie der Ino (sowie auch der Juno) nicht ganz so ideal auf der Stimme. Aber auch sie gestaltete deren Koloraturfinessen mit großer Stilsicherheit. Der Athamas wird oft mit einem Altus besetzt, hier übernahm die Mezzosopranistin Delia Becher die Partie, die aber die Altus-Charakteristik gleichwohl ausgezeichnet zur Geltung brachte. Frederick Jones war ein Jupiter mit fast heldischem Tenorklang, Florian Götz ein jugendlich strahlender Cadmus. Und auch der von Jan Michael Krüger vorzüglich einstudierte Chor muss hier unbedingt gelobt werden. Am Ende Jubel, der auch nach dem Herablassen des Eisernen Vorhangs nicht enden wollte.