Foto: Gruppenbild mit Schwert: Eddie Irle (vorne), Tala Al-Deen, Arash Nayebbandi und Annemarie Brüntjen (v.l.n.r.) © Christian Kleiner
Text:Andreas Falentin, am 4. Februar 2022
„Flieht, ihr Narren!“, heißt es kurz vor Schluss in „Sick of Sickfried“, ein Zitat aus dem „Herrn der Ringe“. Der Zauberer Gandalf brüllt es seiner Reisegruppe zu, bevor er in einen Abgrund stürzt. Auf der Mannheimer Bühne brüllt es Annemarie Brüntjen. Sie behauptet, dass das alte Buch mit dem Urtext vorne an der Rampe mit ihr spricht. Und das Ensemble tut, wie ihm geheißen und verlässt enthusiastisch fluchtartig die Bühne. So schließt sich der Kreis einer bemerkenswerten Aufführung, die einerseits quietschbuntes Happening ist, andererseits originelle Reflexion über Formen, Mittel, Ästhetik und Haltung des Theaters in unserer Zeit.
Deutscher Mythos?
Es beginnt, tatsächlich, mit einer „Einführung“. Arash Nayebbandi kommt als „Dramaturg“ auf die Bühne, bezeichnet uns Deutsche als „monomythisches Volk“. Im Gegensatz zu anderen Völkern hätten wir ja nichts außer dem „Nibelungenlied“, höchstens vielleicht Grimms Märchen. Das ließe sich natürlich diskutieren, aber das geht einem ja bei vielen Einführungen so. „Polymythisch“ wolle man daher erzählen, sagt Nayebbandi, die Perspektive der Individuen sei wichtiger als die große Erzählung.
So stellt sich jede Figur zunächst vor, im Hip-Hop-Modus. Denn „Sick of Sickfried“ ist auch Musiktheater. Jakob Hoff, in der Hip-Hop-Welt bekannt als Torky Tork, liefert die nie nur aggressiven, oft phantasievollen und eigenwilligen Sounds. Mindestens zwei Drittel des Abends bestehen aus gereimtem Sprechgesang. Man mag sie auf Anhieb, diese Figuren. „Creamhild“ die sich in der Männerwelt ihrer Brüder zum Objekt gemacht sieht, ist bei Tala Al-Deen eine einzige Bühnenexplosion von sich bahnbrechender Lebenslust. Im Gegensatz dazu ist Annemarie Brüntjen eine gelassene, geradezu coole Brünhild, hier „LeBrun Hild“, es braucht schließlich Rapper-Namen. Auch König „Kunta“ bleibt davon nicht verschont. Arash Nayebbandi spielt ihn und Hagen, der seinen Namen behalten darf. Eddie Irle schließlich ist „Sickfreakd“, der Held.
Die Bühne von Julian Marbach ist ein System von Rampen, sozusagen von Präsentations-Plattformen für die Raps. Dazu kommen Videos von Thorsten Hallscheidt und Micki Fröhlich, die nie plump illustrieren, sondern Beziehungen zur Handlung herstellen und sich dem Rhythmus der Musik fügen. Besonders gelungen sind die verfremdeten Auszüge aus Fritz Langs „Nibelungen“-Verfilmung. Und Kathrin Krumbein hat echte Hingucker-Kostüme geschaffen, knallbunt, mit köstlichen Accessoires – ein sinnliches Vergnügen und ein tolles optisches Fundament für die Figuren.
Eskalationen im Hintergrund
Durch das Primat der individuellen Sichtweise wirkt vieles an der altbekannten Geschichte neu, quasi ungehört. Die Begegnung der Damen vor dem Münster, eine der markantesten Eskalationen der Vorlage, wird beispielsweise einfach stumm in die hintere Bühnenhälfte verlegt, als stummer Zweikampf in einer Art Gästeklo, während sich vorne die Kerle spreizen. Auch die Zweikämpfe auf dem Isenstein werden nicht ansatzweise gezeigt, genauso wenig wie die Vorgänge um das Siegfrieds Ermordung eigentlich auslösende Hin-und-her um Brünhilds Gürtel.
Stattdessen lernen wir einfach die Figuren und ihre Beziehungen kennen, erleben ganz heutige Individuen, für die persönliches Glück und Selbstentfaltung im Mittelpunkt stehen. Sie wollen keinen Helden, der sie dominiert oder gar vergewaltigt. Sie wollen überhaupt keine Helden. Und wenn schon, dann zumindest Heldinnen. Deshalb bringen Creamhild, Kunta und LeBrun Hild zum Ende hin Sickfreakd um, jede, jeder auf seine Weise. Ausgerechnet Hagen ist nicht dabei. In einem großartig schizophrenen „inneren Dialog“ mit Kunta, berstend vor Energie und mit Witz gespielt von Arash Nayebbandi, behauptet er seine emotionale Nicht-Verstrickung und Emanzipation. Und der dreifach tote Held beklagt seine Gefangenheit in der Drachenhaut, seine geradezu zwanghafte Unsensibilität – und stirbt noch einmal, obwohl er nach wie vor sicher ist, dass es Helden braucht. Eddie Irle macht all das ohne jede Sentimentalität.
Empathisches Geben und Nehmen
„Flieht, ihr Narren!“. Warum? Theater ist keine einfache Sache. Aber man kann sich ihm stellen, wie diese Aufführung am Nationaltheater Mannheim zeigt. Man kann immer wieder ein- und aussteigen ins überkommene Theaterspiel, wenn man es kann, sogar mit dem alten Text, wie dieses starke, homogene Ensemble an einer Stelle parodistisch vorführt. Man muss vielleicht gesellschaftliche Probleme, etwa im Gender-Bereich, nicht so explizit wie hier auf der Bühne diskutieren, sondern kann den Mitteln des Theaters und den Abstraktionsfähigkeiten und den Sinnen des Publikums noch etwas mehr vertrauen. Aber man kann dableiben. Dieses Theater lebt.
„Sick of Sickfried“ ist ein besonderer, kluger, vor allem sinnlicher Theaterabend. Das Publikum lebt im Moment, genießt Figuren, Reime, Bilder, originelle musikalische Motive und kann dabei Haltung einatmen. Der Text von Jaques Tabaques (ein Pseudonym für den in Aachen engagierten Schauspieler Tim Knapper) und Jaxxon Mehrzweck (der Regisseur himself???) ist eine tolle Vorlage und scheint sich in den Proben deutlich – und bestimmt zu seinem Vorteil – verändert zu haben. Inwiefern der Regisseur Florian Hertweck Wege, Richtungen, Auslegungen, Struktur vorgegeben hat, ist schwer zu sagen. In jedem Fall hat er ermöglicht, dass das Ganze als echte Ensemble-Arbeit erscheint, ein empathisches Geben und Nehmen auf allen Ebenen. Und das ist für sich genommen schon etwas Besonderes.