Foto: Szene aus dem Experimentellen Musiktheater "Josefine". © Theater Krefeld und Mönchengladbach
Text:Andreas Falentin, am 16. Oktober 2012
Das Parkett des Mönchengladbacher Theaters ist von hellen Stegen durchzogen. Auf diesen – und der gleichfalls hell ausgeschlagenen Bühne – bewegen sich über 50 Menschen nach einem chaotisch anmutenden, offenbar vorherbestimmten Muster. Sie verlassen den Raum und betreten ihn an anderer Stelle wieder, einige blicklos, ganz auf sich bezogen. Andere nehmen das Publikum wahr, raunen ihm etwas zu, wieder andere fliehen vielleicht vor etwas, viele suchen. Eine Frau bewegt sich merkwürdig elegant zuckend, lange ohne Reaktion. Dann zuckt ihr jemand auf andere Weise entgegen und sie zucken zusammen, bis das Bewegungsmuster sie wieder trennt.
Begegnung zwischen Menschen steht im Zentrum dieses Musiktheaterabends – als Fluchtpunkt und Ideal, als Lebenselexier und Erfüllung menschlicher Existenz. Björn SC Deigner hat einen Text verfasst „und oder oder und und oder“, der der Komposition des peruanischen Komponisten Sagardia wie der Inszenierung von Christian Grammel als strukturierende Grundlage dient und nur sehr lose an Franz Kafkas Titel gebende letzte Erzählung angelehnt ist. Das Mäusevolk, die dividualisierte Masse, wird bei Deigner und Sagardia zum Protagonisten, immer wieder in Individuen aufgespalten, die dann sichtbar ihre Freiheit genießen oder, häufiger, ihre Einsamkeit beklagen („da ich noch teilnahm an den anderen…“) und sich nach der Anonymisierung in der Masse, nicht ohne Verlustängste, zurücksehnen („ein schweigsamer Wald ist der Mensch in der Masse“) und untertauchen. Deigner und Grammel spiegeln dieses Grundproblem menschlicher Existenz an den sozialen Mechanismen im Internet, die, so ihre These, ähnlich ablaufen, schneller, zielgerichteter, aber ohne die befreiende Emotionalität der tatsächlichen Begegnung. Immer wieder fahren Hubpodien auf der leeren Bühne auf und ab und führen ästhetisch angenehme, reibungslose Mechanik vor. Die Videoprojektion der Mitwirkenden vor roten Theatersesseln wird erbarmungslos verpixelt zu großen, hübsch blassen Farbflecken (Bühne und Video: Agnes Fabich).
So ganz funktioniert dieser Schritt nicht. Er überlastet den nur 75-minütigen Abend und trennt ihn, zur großen Irritation mancher Zuschauer, endgültig von der Textvorlage. Vor allem aber rücken die Darsteller, ein eigens zusammengestellter Laienchor, vier Solisten des Hauses und der, auch mit einem Monolog vertretene, Dirigent Lennart Dohms aus dem Zentrum.
Dabei ist es wunderbar, den Darstellern beim präzisen, intensiven und fast immer uneitlen Spiel zuzusehen. Charlotte Pistorius hat sie in heutige Kostüme gekleidet, die mit wenigen Details – Accessoires, Frisuren, hier ein Muster, da ein Schnitt – der Entstehungszeit von Kafkas Erzählung angenähert sind und den Darstellern eine Aura des Sonderbaren mitgeben.
Die Interaktionen werden begleitet und gestaltet von Sagardias Musik, weichen, teilweise improvisierten Klangfragmenten, oft ausgelöst oder unterbrochen durch ein metallisches Schlagen. Dazu wird vokalisiert, gesummt, gebrummt, gepfiffen und gesprochen. Das Besondere: man hört aufeinander in Mönchengladbach. Stärker als in vielen konventionellen Opernaufführungen vermittelt sich der Eindruck, dass alle Beteiligten bewusst gemeinsam etwas schaffen. So werden die skizzierten Überladungen nebst der didaktischen Überforderung der Übertitelungsanlage zu lässlichen Einwänden bei diesem leisen, ungewöhnlichen und sehr anregenden Musiktheater.