Foto: Laura Waltz (links) mit einer Zuschauerin. © MIR.LAB
Text:Andreas Falentin, am 23. Mai 2024
Das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen startet Theater mit VR-Brillen in einem Großraumbüro in Bahnhofsnähe. Genau acht Personen erleben strahlende Bilder, aber eine wirre Dramaturgie.
Die „Mixed-Reality-Science-Fiction-Mini-Oper-mit-VR-Brille”, so untertitelt das Theater das Stück, ist vor allem eines: ein Anfang. „Am Ende der Welt” ist die erste künstlerische Produktion des MIR.LAB, des neuen Theaterlabors am Musiktheater im Revier. Es handelt sich um die erste Inszenierung der Leiterin dieses Labors, Nora Krahl, in Gelsenkirchen. Und es ist die erste Zusammenarbeit des Theaters mit dem Place-Festival. Dabei ist es der erste Versuch des Theaters, künstlerisch mit VR-Brillen umzugehen.
Das Publikum: acht Menschen
Man geht durch eine unscheinbare Tür am Bahnhofsvorplatz in ein leerstehendes Großraumbüro. Mit Sperrholzwänden, die innen phantasievoll bemalt sind, wurde hier ein Raum abgeteilt, etwa zwanzig Meter auf zehn Meter. Das Publikum, genau acht Menschen, bekommt VR-Brillen und betritt den Raum. Im Folgenden werden die Avatare, die digitalen Persönlichkeiten, die den einzelnen Zuschauer:innen zugeordnet sind, zur Ausstattung des Bühnenraumes. Das geht nur mit maximal acht Personen, mehr gestattet die VR-Technik bisher nicht. Man sieht mal die eigenen Finger und Füße, mal die seines Avatars, der auch die Gestalt wechselt, von einer merkwürdig geformten Säule – ohne Finger und Füße – zu einer Frau und schließlich zu einem Wort, zu einer Buchstabensäule mit Armen. Das alleine ist durchaus aufregend.
Die Zuschauenden werden Spielfiguren
Auf der Handlungsebene befinden wir uns im Jahre 2032, also gar nicht weit weg von heute. Wir beobachten eine Physikerin (die Schauspielerin Laura Waltz) und eine Soziologin (die Sopranistin Lisa Ströckens). Sie diskutieren ihre Welt. Die Physikerin merkt an, dass viele naturwissenschaftliche Zahlen nicht mehr stimmen, und sie meint, dass die Welt aus den Fugen gerät. Die Soziologin glaubt nicht an Zahlen. Sie versuchen, ihren Streit durch ein digitales Spiel zu begraben, das ihnen gemeinsam ein Wohlgefühl verschafft. Wir Zuschauer:innen sind ihre Spielfiguren. Dann geht langsam, beginnend mit einem kurzen, weißen Rauschen, tatsächlich die Welt unter, in insgesamt 45 Minuten.
Die Erlebnis- und Bilderwelten, entworfen vor allem von Baris Pekcagliyan und Warya Rybakowa, sind phantasievoll, haptisch und immersiv. Aber man verfängt sich in ihnen. Irgendwann hört man nicht mehr zu, was nicht am Spiel der Schauspieler liegt. Die Musik, Muzac mit zwischengeschalteten, sehr gut gesungenen Koloraturen, und die einfache aber kleinteilige Dramaturgie halten den Bildern nicht stand. Selbst die Zuschauer-Gemeinschaft verliert man unter den sehr starken Bildern. Man sieht nicht mehr auf die anderen, nur noch auf sich. Das könnte auch als eine Begleiterscheinung des Weltunterganges interpretiert werden. Aber ist es nicht gerade das Theaterstiftende in dieser Produktion, dass sie immersiv erschaffen will, dass die Zuschauenden Teil des Bildes sind?
Blick nach Augsburg
Diese Unsauberkeiten in der Dramaturgie entstehen auch, weil das Gelsenkirchener Theater noch am Anfang seiner VR-Erfahrung steht. In Augsburg etwa, im Moment das Theater-Mekka der VR-Brillen, kann man derzeit „Erwartung“ bestaunen. Die Bildwelten sind ein wenig konventioneller: ein Wald, eine verfremdete Wüste, ein Platz in einer Großstadt. Aber die Musik und die Dramaturgie von Schönbergs Oper sind stark und stringent. Und das lässt die Bilder und Bewegungen dringlicher, stärker wirken. Hier stimmt das Gleichgewicht – aber für eine Person, nicht für eine Gruppe. Und in Augsburg experimentiert man schon seit Jahren mit VR-Brillen. Also Gelsenkirchen: Weitermachen!