Foto: "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" am TJG Dresden. Daniel Langbein, Marc Simon Delfs, Babette Kuschel, Moritz Stephan, Hanif Idris © Dorit Günter
Text:Tobias Prüwer, am 4. Oktober 2015
Ost-Berlin in den Achtzigern. An der Mauer, auf der Lauer lebt der junge Michael. Was soll ihn schon die Beton-Barriere kümmern, wenn er das Leben noch vor sich hat und verliebt ist? Um Michael Kuppisch und seine Clique ist „Sonnenallee“ gestrickt, das Mareike Mikat am Dresdener Theater Junge Generation inszeniert hat. Der Regisseurin glückt hierbei jene Gratwanderung, die vom Kinder- und Jugendtheater oft gefordert und fast ebenso häufig nicht erfüllt wird: Ihre Inszenierung spricht sowohl junges wie älteres Publikum wirklich an. Wohl auch, weil sie dem DDR-Alltag ohne Verklärung einigen Groove abgewinnt.
Thomas Brussigs erzählerische Qualitäten sind bekannt, im Roman „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“, 1999 erschienen, widmet er sich vergnügt den Alltagssorgen junger Heranwachsender. Micha und seine Clique haben auf FDJ und den real existierenden Klassenverband keine Lust. Das Herz der vier Freunde schlägt für Breakdance, akrobatisches Tanzen zum West-Hiphop bedeutet ihnen Freiheit. Auf der Sonnenallee – abgeschnitten vom sogenannten antifaschistischen Schutzwall – üben sie ihre Moves nur einen Steinwurf von der Mauer entfernt. Dabei versuchen sie, sich nicht vom Abschnittbevollmächtigten (ABV) bei ihrem unsozialistischen Tun erwischen zu lassen und sich auch sonst einigermaßen zu arrangieren mit ihrer Lebenslage. Und dann ist da Miriam, für die Michael schwärmt, die sich aber – wie das so oft ist in der Pubertät – mehr für Ältere interessiert. Mikat hat den Episodenroman komplett in die Mitte der 1980er verlegt (bei Brussig beginnt die Handlung etwas früher) und zu einem Stationendrama zusammengestrichen, das trotz aller Wirrungen einer recht stringenten Linie bis zum ersten Kuss von Michael und seiner Amour fou folgt. Mit Humor und feinem Situationsgefühl verknüpft sie die einzelnen Szenen zur aberwitzigen Coming-of-Age-Revue – viel Musik und manche Tanzeinlage inklusive.
Setzt schon Brussig nicht auf ostalgische Momente, so wird die Damals-Sehnsucht auch hier nicht bedient. Häufig besorgen schon eingespielte Songs Zeitkolorit, während der Bühnenraum auf Realismus bedacht eingerichtet ist. Polygone der Plattenarchitektur ragen im Hintergrund, typische achteckige Blumenkübel reihen sich davor, eine DDR-Straßenleuchte wirft Licht und Schatten: Die Ost-Achtziger sind klar zu erkennen und werden vom saloppen Spiel hübsch konterkariert. Damals schon Dabeigewesene können über Vieles schmunzeln, werden vielleicht erinnert auch an ihre Geschichte. Die jungen Besucher oder nicht DDR-Sozialisierte erfahren ein bisschen was über den DDR-Alltag – typisches Vokabular und Einrichtungen wie die Freie Deutsche Jugend werden von den Figuren kurz erklärt – können ansonsten mitleiden mit den Charakteren. Dass diesen ein hohes Identifikationspotenzial innewohnt, liegt neben dem universellen Pubertätstrouble auch an der Spielfreude und den direkten Zuschaueransprachen.
Die Viererclique tritt als Erzähler auf und treibt die Geschichte abwechslungsreich und geschwind voran. Kleine Episoden werden nicht ausgespielt, sondern mithilfe von Pappkartonrequisiten skizziert. Für eine Radtour ins Umland, um eine heißbegehrte Kassette zu ergattern, klemmt sich ein Spieler einfach ein ausgeschnittenes Fahrrad zwischen die Beine, ein anderer lässt dessen Jacke wackeln und besorgt so Fahrtwind. Dadurch gewinnt die Inszenierung ein ungewöhnliches Tempo, dass auch durch Umbaupausen nicht gedrosselt wird. Kulissenschieben besorgen die Spieler einfach selbst, werden ins Geschehen integriert. Andere Szenen werden ausgespielt, die auch einmal leisere Momente zulassen, bevor die Geschwindigkeit wieder hochgeschraubt wird. Bis auf den ABV werden die wenigen Erwachsenen – Michas Eltern, die Rektorin, der Onkel aus dem Westen etwa – durch Gliederpuppen dargestellt. Diese zusätzliche Abstraktionsebene lässt den Zuschauerblick auf die Heranwachsenden fokussieren.
Das hohe Tempo überfordert keinen im Ensemble. Schau- und Puppenspieler – bei der tollen Gesamtleistung einen Darsteller herauszupicken, wäre unangemessen – haben im Gegenteil offenkundig nicht nur Freude am Ost-Chique on Speed. Sie agieren derart spielwütig, dass bei der Premiere der Zwischenapplaus nach jeder Szene zum Normalfall erwächst. Beifallsbekundungen in einer Kritik zu erwähnen, muss hier ausnahmsweise erlaubt sein.