Foto: Mojca Erdmann (Lulu) und Michael Volle (Dr. Schön, Jack the Ripper) in Bergs "Lulu". © Bernd Uhlig
Text:Wolfgang Behrens, am 2. April 2012
Das Paris-Bild ist weg. Andrea Breth hat es für ihre Inszenierung von Alban Bergs „Lulu“ an der Berliner Staatsoper kurzerhand gestrichen, da es mit seinem breit ausgepinselten Gesellschaftspanorama nicht in ihr dramaturgisches Konzept passte. Ein Eingriff mit Folgen: Aus urheberrechtlichen Gründen konnte der Rest des dritten Aktes (den Alban Berg zwar im Particell zu Ende komponiert, aber nicht mehr vollständig instrumentiert hat) nun nicht mehr in der gängigen Fassung von Friedrich Cerha gespielt werden. Eigens für diese Produktion hat David Robert Coleman deshalb eine neue Orchestrierung besorgt, die nun eher das Fragmenthafte hervorhebt: Durch Hinzufügung von Harmonium, Akkordeon, Marimbaphon und Steel Drums klingt das Ganze bewusst heterogen, manchmal darf man gar an die Jahrmarktklänge eines Tom Waits denken.
Ob sich die heftigen Buhrufe, die die Regisseurin am Ende einstecken musste, diesem gravierenden Strich verdanken oder doch ihrer Art, die Berg-Wedekind’sche „Lulu“ nicht zu erzählen, mag man nicht entscheiden. Zumindest jedenfalls hat Andrea Breth diejenigen, die eine sogenannte „werktreue“ Inszenierung von ihr erwarteten, gründlich brüskiert. Ihre „Lulu“ ist stattdessen ein so absurdes wie ausweglos pessimistisches Kammer- und Rätselspiel geworden, das der ewigen Wiederkehr leer laufender Liebe nachsinnt.
Anstatt linear die Handlung abzubilden, hat Andrea Breth das „Lulu“–Personal in einen Höllenkreis versetzt, für den sich Erich Wonder ein in kalt-grauen Tönen strahlendes Bühnenbild erdacht hat: In einer gottverlassenen Lager- oder Industriehalle schraubt sich skulpturenartig ein Turm aus Autowracks in die Höhe, ansonsten wird der Raum nur von metallenen, manchmal die Sicht verdeckenden Gestellen strukturiert. In dieser ungemütlichen und menschenfeindlichen Umgebung bewegen sich die Figuren, völlig abgelöst vom Inhalt ihrer Dialoge, in Zeitlupe durch den ersten Akt. Sie sind in eigenartigen Zwangshandlungen gefangen, beschauen ihre Hände, schreiten rückwärts oder kippen zur Seite. Alle Männer Lulus sind schon da, alles passiert irgendwie gleichzeitig, und manchmal ergeben sich seltsam verschobene Korrespondenzen zum Text: Die Erwähnung eines dunkelblauen Kleides der Lulu fällt mit der Erscheinung der Gräfin Geschwitz (die im ersten Akt im Grunde nichts zu suchen hat) in einem ebensolchen Kleid zusammen. Eine somnambule, rätselhafte Choreografie.
Ab dem zweiten Akt kehren die Aktionen in ihr natürliches Zeitmaß zurück, das Vexierspiel indes setzt sich fort. Bis zur Lächerlichkeit perpetuieren die Figuren ihre Posen: Ein Athlet boxt stumpf vor sich hin, Dr. Schön rennt auf und ab, eine Art rasender Reporter mit vorsintflutlicher Filmkamera gleitet auf Rollschuhen durch die Szenerie. Wenn im letzten Akt Lulu anstelle ihres Porträts von ihrem Ziehvater Schigolch in einen der Metallrahmen hineingenagelt wird, dann ist das der Höhepunkt der Konkretion in dieser Inszenierung und weist zugleich die größte Nähe zu geläufigen Lulu-Deutungen auf: Die Person der Lulu als gewaltsam zugerichtete Projektionsfläche ihrer Liebhaber.
In dieses Interpretationsraster fügt sich Mojca Erdmann, die Darstellerin der Lulu, auf nahezu ideale Weise. Die unerhörte Leichtigkeit, mit der sie die irrsinnigen Sprünge und Koloraturen der Partie meistert, verleiht ihrer Gestaltung etwas Über- oder Vor-Individuelles – ihre Lulu kommt gleichsam ohne Expressivität aus und ist sozusagen reine Musik (falls es das gibt). Erdmann ist von einem stupenden Herren-Ensemble umgeben: Stephan Rügamer als Maler und Thomas Piffka als Alwa phrasieren hinreißend, Michael Volle gestaltet einen ungemein kraftvollen Dr. Schön, und Georg Nigl beweist als Athlet ein feines Gespür für charakteristische Farben. Daniel Barenboim kommt bei seinem Dirigat wie schon beim „Wozzeck“ vor einem Jahr die eher spröde Akustik des Schiller Theaters, das der Staatsoper nach wie vor als Auweichquartier dient, entgegen: Die Farben der Partitur wirken wie durch ein Prisma zerlegt, ohne dass der Gesamtklang je auseinanderfiele. Auf sinnfällige Weise spiegeln sich so Musik und Szene ineinander wider: Die schwül-lockende Atmosphäre des „Lulu“-Stoffes tritt in den Hintergrund. Doch es bleibt ein unheimlicher, ein eiskalter Sog.