Foto: „Im Notfall nicht die Scheibe einschlagen“ © Luigi Consalvo
Text:Manfred Jahnke, am 1. Mai 2021
Ein Mann schiebt sich vorsichtig in einer „Kabine“ auf Rollen, auf drei Seiten mit Plexiglasscheiben ausgestattet, auf die leere Bühne. Vorsichtig tastet er die Vorderfront seines Kastens ab. Nacheinander schieben sich drei Frauen, alle drei in Kostümen aus orange-roten Farben (Ausstattung: Heinrich Hesse, Luigi Consalvo), die Augen rot umschattet, in ebensolchen Kästen in den Raum. Dabei ist jede für sich beschäftigt: Die eine malt zwei Kreise wie Augen auf die Scheibe, wischt sie wieder weg, eine andere nestelt an ihrer Tasche im Kleid, die dritte sucht mit ihrem Handy Empfang. Dann kommt er wieder, mit einem blauen Müllsack in der Hand: So beginnt der Reigen in „Im Notfall nicht die Scheibe einschlagen“.
Vier einsame Menschen haben sich in ihren „Kabinen“ eingerichtet, die sie nicht verlassen. So vermisst Annette Scheibler ihre kleine Welt, begießt Sigrun Kilger eine in den verschiedenen Sequenzen immer größer werdende Topfpflanze. Alberto Garcia Sánchez, der auch die Regie für diese Ensembleproduktion übernommen hat, tritt fegend auf, wobei er, weil der Raum so eng ist, ständig über seinen Besen steigen muss, damit er überhaupt kehren kann. Sandra Hartmann spielt eine Schwangere. Jede(r) bleibt für sich. Spürbar bleibt die große Sehnsucht nach Begegnung, die vor allen Dingen Sandra Hartmann in ihren Situationen anspielt: Smartphone, vorgetäuschte (?) Schwangerschaft, Auftritt im Brautschleier und in ihrer berührendsten Szene sitzt sie schreibend auf einem Klappstuhl, steckt ihren Brief in einem kleinen Postkasten neben sich, holt diesen wieder heraus, presst ihn an ihren Schritt, zerknüllt ihn und hängt ihn zu vielen anderen zerknüllten Briefen. Deutlicher kann man diese Sehnsucht nach Kontaktaufnahme und ihr Scheitern nicht vorführen.
Diese Abkapselung von vier Menschen in ihren winzigen Räumen spiegelt die Isolation, die die gegenwärtige Pandemie erzwingt. Aber diese spiegelt wiederum eine allgemeine gesellschaftliche Situation: die Vereinzelung des Menschen, die wiederum Einsamkeit schafft. Er sehnt sich zwar aus dieser heraus, aber auch, wenn er spürt, dass dieser Zustand krank macht, hat er nicht wirklich die Kraft, sich aus dieser Lage zu erlösen. Das Ensemble Materialtheater findet hierfür eindrückliche Bilder, wenn sich alle vier an die Magengrube fassen, oder die Nase von Sigrun Kilger blutet und das Blut an der Scheibe klebt. Die Kraftlosigkeit zeigt sich aber auch darin, dass alle Versuche, mit einem Gegenüber Kontakt aufzunehmen, scheitern. Da tritt Annette Scheibler mit zwei Mokkatassen auf, wird von den anderen beobachtet, aber jede(r) bleibt in seiner Blase. Die Bewegungen mit dem Tennisschläger lassen nur in den Köpfen des Publikums ein Spiel entstehen.
Diese Inszenierung entwickelt eine Reihe von sinnlich-eindringlichen Bildern, die typische Situationen des sich Einrichtens in der selbstverschuldeten Einsamkeit – um einen berühmten Satz von Kant zu variieren – vorführen. Dabei entwickelt sich das Spiel pantomimisch, angeleitet von der Musik Daniel Kartmanns, der mit eigenen Kompositionen und Samplings filmisch sentimentalische Stimmungen mit rhythmischen und lyrischen Melodien verbindet. Dabei entsteht eine Collage, die den szenischen Bildern eine eigenwillige Grundtönung gibt und dem Spiel die Atmosphäre eines Stummfilms verleiht (so der Eindruck am Bildschirm). Am Ende dann, nachdem Annette Scheibler mit einer Maske spielt, wird es hektisch aufgeregt, Stimmengewirr bricht über das Publikum herein. Während das Ensemble sich mit ihren Kästen tanzend im Raum bewegt und von der Hoffnung des Aufbruchs erzählt, singt Sandra Hartmann ein wunderschönes Kunstlied.
Diese Koproduktion mit dem FITZ Stuttgart, dem Figurentheaterfestival wunder.punkt und dem Théatre Octobre Brüssel einmal als nicht gestreamtes Video, sondern live sehen zu können, würde zum spannenden Abenteuer.