Foto: „Turandot" mit Aldo di Toro, Julian Orlishausen, Michael Pegher und David Lee © Nils Heck
Text:Roberto Becker, am 31. August 2019
„Turandot“ ist nicht nur Puccinis letzte Oper. Sie ist – obwohl Fragment geblieben – auch ganz große Oper. Vom ersten Ton an, mit Dauerpathos aus dem Graben und mit mehr als nur einer Prise Wahnsinn. Im Zentrum die eiskalte Prinzessin, die die Männer nicht nur als Lebensoption für sich ausschließt, sondern dank ihrer Macht auch gleich noch reihenweise köpfen lässt. Eine nihilistische Grausamkeit als eine ins Dunkle, Abgründige gewendete Blutgier, die nichts mehr von der Liebe und dem Begehren weiss, die sie spiegelt. Auf der anderen Seite der Mann, den das so anzieht, dass er sich dieser Frau gefährlich nähert. In der Hoffnung, ihren Panzer zu knacken. Mit normalem menschlichen Maß sind beide nicht zu fassen. Es sind eher schwere Fälle.
Puccini muss sich für den anvisierten versöhnlichen Schluss nicht rechtfertigen. Der hätte nur eine jähe Wendung von der bluttriefenden männervernichtenden Willkürherrscherin zur liebenden Frau sein können. Sie hätte obendrein einen ziemlich großen Generalpardon nötig gehabt, um an der Seite von Calaf auf dem Thron zu bleiben. Bekanntlich starb der Komponist 1924 vor Vollendung des Werkes. Was die Nachwelt als Auftrag betrachtete (oder missverstand?). Und der etwa Franco Alfano eine erste Antwort auf das Rätsel versuchen ließ, wie Puccini wohl aus der selbstgestellten Falle rauskommen würde.
Valentin Schwarz hat 2017 den „Ring Award Graz“ gewonnen. Wenn auch nicht so spektakulär wie 2008 der aktuelle Bayreuther Tannhäuser Regisseur Tobias Kratzer. Aber seinem Engagement als Bayreuther Ringregisseur 2020 durch Katharina Wagner half das – vor allem aber sein Ring-Konzept. Seit sie damit im Juli die versammelten Journalisten verblüffte, hat der 30-jährige Österreicher eine Extraportion Erwartungen zu schultern. Zu beneiden ist er dafür nicht, aber an gelassenem Selbstbewusstsein mangelt es ihm wohl auch nicht. Sein Darmstädter Engagement für „Turandot“ folgt einer Maskenball-Inszenierung, damals noch „unterm Radar“, an diesem Haus. Die besondere Aufmerksamkeit, die ihm jetzt zuteil wird, ist also ein Bayreuther-Anhängsel.
In Darmstadt hat sich Schwarz für das originale Fragment entschieden. Was den Vorteil hat, dass er die Sackgasse nicht umgehen muss, sondern in Szene setzen kann. Zumindest hat er es versucht. Er nimmt den Wahnsinn, der in den Figuren – vor allem in den Obsessionen Calafs steckt, für bare Münze. Seine szenische Reise geht zwar auch nach China, aber nur in die Bilder davon, die bei Calaf zur Folie für eine Reise ins eigene Ich werden. In seinem Fall blickt er nicht nur in den Abgrund, sondern der Abgrund auch in ihn, wie es bei Nietzsche heisst. Der hat den Namen der chinesischen Prinzessin, die ihre Unberührtheit von einem Berg von Leichen aus verteidigt. Sie zündet hier sogar den Wagen mit ihrem alten, kein bisschen imperial wirkenden, greisen Vater an. Dieser Kaiser hatte das Terrorregime seiner Tochter schon so verinnerlicht, dass er sich selbst als Opfer sieht, dem die Enthauptung droht. Düsterer geht es kaum.
Schwarz macht aus Calaf einen Künstler. Genauer einen Maler. In beklemmender Rampennähe arbeitet er an einem Alptraumbild. Vielleicht ein Tier. Eine Collage der Ängste. Dahinter ahnt man die rumorenden Chinesen (Bühne: Andra Cozzi). Menschen in permanenter Angst vor den Schrecken unverhüllter Grausamkeit. Man sieht, wie vor allem Liu mit ihm und um ihn ringt, wie sie sich vom Vater trösten lässt, der wohl mehr als nur väterliche Gefühle für sie hat. Aus dieser engen Welt, die vom funzligen Licht einer Stehlampe dem Auge mehr entzogen als enthüllt wird, flieht Calaf in die Fantasiewelt seiner Bilder. Erst hinter die Leinwand – er steht dann (praktisch ziemlich beiläufig verschenkt) einfach zwischen den dort postierten Choristen.
Dann imaginiert er eine Art Feld-Kino im Krieg der Gefühle: Aus der Versenkung tauchen im Dämmerschein eine Riesenfreitreppe mit China-Bildern in Sepia-Braun auf. Soldaten der berühmten Ton-Krieger-Armee, Bauern, Bonzen und Marionetten. Anfangs hängen die Minister Ping, Pang und Pong als kleine Marionetten an der Seite in Bereitschaft für Calafs imaginären Horortripp, schweben dann lebendig geworden über der Szene, bewegen sich schließlich wie Marionetten Turandots. Die Eisprinzessin selbst schreitet wie ein Zombie durch die Massen. Im langen weißen Kleid mit Schleppe, darunter schwarze Reiterstiefel, im Gesicht trotz Dunkelheit eine Sonnenbrille. Wenn sie eine Abspaltung von Calafs Persönlichkeit ist, wie der Regisseur erklärte, dann ist deren Personifizierung ziemlich finster. Nimmt man das ernst, dann wäre eine Vereinigung dieser Pole nur als Selbstauslöschung denkbar. Bei Schwarz schreitet diese Zombie-Herrscherin gemessen durch die diffusen Reihen auf der Tribüne wie über ein Schlachtfeld voller echter oder emotionaler Leichen und verharrt am Ende im Gegenlicht kaum noch genau erkennbar entrückt. Während der Himmel (spricht die Regenanlage auf der Bühne) die tote Liu und Calaf sich selbst beweint.
Wer die Geschichte als Quizshow im alten China – mit einem Paar im Zentrum, dessen Obsessionen für die Menschenmitwelt nur Kopfschütteln hervorrufen können – auffasst, und die Musik für einen Triumph von Pathos hält, für den ist der Psychotripp a la Schwarz durchaus ein Vorschlag zur Güte.
Gesungen wird auf durchweg glaubwürdigem Niveau. Jana Baumeisters berührende Liù muss nur bei sich selbst bleiben, um sich von Soojin Moons lodernd geisterhaftem Turandot-Zombie abzusetzen. Was beiden überzeugend gelingt. Aldo di Toro ist kein markerschütternder, aber ein durchweg höhensicherer Calaf. Dong-Won Seo ist ein zuverlässiger Timur. Julian Orlishausen (Ping), David Lee (Pang) und Michael Pegher (Pong) hängen nicht nur effektvoll in ausgefallenem Rot ihrer Kostüme (Pascal Seibicke) in den Seilen, auch die übrigen Ensemble-Mitglieder und die Chöre (Sören Eckhoff) sichern das vokale Niveau, für das Giuseppe Finzi am Pult des Staatsorchesters Darmstadt sorgt. Bei ihm hört man viel von den Abgründen hinter einer eher vermeintlichen Chinoiserie, die bei Puccini eh mehr nach einem Echo des Triumphs des Totalitären klingt, das nach seinem Tod in Europa triumphierte…
Und der Bayreuth-Test? Den gibt es nicht wirklich. Schon, weil das Puccini-Fragment kein Wagner ist. Der Mut zum entschlossenen, ganz eigenen Zugriff auf bekannt Geglaubtes, der ist jedenfalls nicht zu übersehen.