Foto: Kyungil Ko, Andrew Watts, Sarah Kuffner, Melanie Kreuter und der Bielefelder Opernchor in "Alice in Wonderland". © Matthias Stutte
Text:Stefan Keim, am 6. Juni 2011
Alice singt ein Wiegenlied für ein hässliches Baby. In ihren Armen verwandelt sich das Kind in ein Schwein. Dissonanzen bemächtigen sich der zarten, volksliedhaften Melodie, die Realität scheint zu verschwimmen. Lewis Carrolls „Alice“ ist eine dauerhafte Inspirationsquelle für Theater- und Filmemacher. Tim Burton hat eine rauschhaft-skurrile Kinoversion inszeniert, von Tom Waits und Robert Wilson gibt es ein Arthaus-Musical, viele Schauspieladaptionen – und eine vielschichtige, sinnliche Oper der in Korea geborenen und in Berlin lebenden Komponistin Unsuk Chin. Bielefeld ist innerhalb weniger Jahre das dritte Theater, das dieses Werk zeigt.
Das Wunderland ist eine Traumwelt. Hier ist die Zeit stehen geblieben. Durch einen Kaninchenbau ist Alice in diese seltsame Sphäre hinein geplumpst. Die seltsamen Gestalten, denen sie begegnet, sind keinesfalls niedlich. Die Herzkönigin, die hier gebietet, hat eine große Leidenschaft für willkürliche Enthauptungen. Eine grinsende Katze entpuppt sich als völlig anarchisches Wesen. Alice appelliert immer wieder an die Vernunft dieser Figuren, doch mit Logik kann sie überhaupt nichts ausrichten. Alle Gesetze sind aufgehoben, es gibt keine Orientierung. Dieses Wunderland ist gefährlich. Und zugleich eine spielerische, verrückte Welt, in der alles möglich ist. Die Komponistin Unsuk Chin nimmt diese dramaturgische Freiheit, um mit den musikalischen Formen zu spielen, von der Opernarie bis zum puren Klangchaos gibt es alles. Eine Schlafmaus erwacht, beginnt eine Geschichte und beendet sie mit einem rapartigen Gesang, in dem alle Worte mit M anfangen. Trotz dieser Vielfalt wirkt die Musik nicht eklektizistisch, sie besitzt einen inneren Zusammenhang jenseits der Logik – wie das Wunderland.
Die Regisseurin Helen Malkowsky inszeniert keine märchenhaften Bilder. Alle Szenen spielen in einer verfremdeten Bibliothek zwischen Bergen aus Folianten. Das von Witolf Werner impulsiv und präzise geleitete Orchester sitzt im Bühnenhintergrund. Die Hauptrolle ist zweigeteilt. Vorne singt Melanie Kreuter meist direkt ins Publikum, eine ältere Alice mit vielen Zwischentönen. Während die Tänzerin Merle Große-Tebbe sich als ihr jugendliches Ich in die absurden Abenteuer stürzt. Dadurch kommt ein interessanter Aspekt ins Spiel. Alice ist hier nicht nur die Geschichte einer Heranwachsenden sondern auch der Versuch einer erwachsenen Frau, sich nicht im Altern zu verlieren, die Fähigkeit zum Träumen zu behalten. Das Bielefelder Ensemble bewältigt die großen Aufgaben, die diese Partitur stellt, grandios. Der ausgezeichnete Countertenor Andrew Watts war schon bei der Uraufführung vor vier Jahren dabei, neben ihm begeistert Daniel Billings als verrückter Hutmacher. Eine Familienoper ist „Alice in Wonderland“ nicht. Aber packendes, vielschichtiges, anspruchsvolles Musiktheater.