Foto: Szene aus "Zaun" mit Eric Wehlan und Jeanne Le Moign © Martin Kaufhold
Text:Bettina Weber, am 21. Januar 2023
Rote, pralle Äpfel zieren einen üppigen Baum, die Möhren im Beet wachsen prächtig, und die Gardinen in dem hübschen kleinen Häuschen hängen ordentlich und weiß hinter ihren Fenstern. Doch der Schein trügt, so viel ist von Anfang an klar: Das Farmhaus, in dem Avery mit ihren Eltern lebt, ist kein gewöhnliches Zuhause. Es ist Gefängnis und Puppenhaus, Schmuckschatulle und Höllengrund. Denn Avery führt kein normales Leben: Sie wird von ihren Eltern zuhause gefangen gehalten und von der Außenwelt abgeschirmt, wird zu Gebeten, Dankbarkeit und Fleiß, klischeehafter Weiblichkeit und ewigem Kindsein gezwungen. Nachts, wenn die Eltern schlafen, führt sie Gespräche mit dem Geist ihres toten Onkels, ihrem einzigen Verbündeten, der sich jedoch auf der Veranda in den Kopf geschossen hat. Sam Max, nonbinäre(r) Autor:in, Regisseur:in, Musiker:in aus New York, hat mit „Zaun“ ein beachtliches Debütstück geschrieben, das die Monstrosität einer zwanghaft gelebten Heteronormativität genauso einfängt wie die Verwundbarkeit der menschlichen Psyche. Denn natürlich bleibt Averys multiple Gefangenschaft nicht ohne Folgen, da können Mutter und Vater noch so oft ihr Mantra von „Schön, dass wir hier sind“ wiederholen.
Der (para-)normale Alltag
Sam Max lässt in seinem Text die Ebenen Traum, Realität, Erinnerung und Fantasie verschwimmen – und Wilke Weermann, der die Deutschsprachige Erstaufführung des Stücks (Übersetzung: Robin Detje) nun am ETA Hoffmann Theater Bamberg auf die Bühne gebracht hat, findet darauf ebenso sinnfällige wie einprägsame Antworten. „Ich würde das gerne löschen“ sagen die Eltern etwa, wenn Avery aufbegehrt, und Weermann lässt sie einen Knopf drücken und das Gespräch zurückspulen. Wann immer im Text das Szenario in einen Traum oder eine Erinnerung kippt, verändert das Licht die Szenerie (Beleuchtung: Markus Göppner) und es erklingt das Geräusch eines zurückgespulten Tonbands oder das der Tasten eines Kassettenrekorders (Musik und Sounddesign: Constantin John), und die Stimmen kommen in verzerrter Form vom Band. Stumm bewegen die Darsteller:innen ihre Lippen: Das pantomimische Spiel gelingt zwar ehrlicherweise nicht immer ganz simultan, ist als Ausdrucksmittel aber dennoch überzeugend, weil es die Paranormalität des Geschehens gleichermaßen verfremdet und veranschaulicht.
Nicht zuletzt passt es zur abhackten Syntax der Protagonistin (die ihren Wortschatz vor allem aus dem Taschenwörterbuch speist, das der Onkel ihr geschenkt hat): Nomen wie „Truck“ oder „Stadt“ verwendet sie kontinuierlich ohne Artikel – die unterentwickelte Sprache als Symbol einer klein gehaltenen Persönlichkeit. Jeanne Le Moign verleiht der Hauptfigur Naivität und Kaltschnäuzigkeit, aber auch eine Sensibilität, die im krassen Gegensatz zu der eindrücklichen Fratzenhaftigkeit steht, mit der Philine Bührer und Florian Walter Mutter und Vater verkörpern. Da zeigt sogar der tote Onkel (ebenfalls überzeugend: Eric Wehlan) mehr emotionale Regung. Er ist ihre vorerst einzige Verbindung zur Außenwelt, weil er mit seinem Truck wegfahren kann und ihr Geschenke bringt, ein Kleid etwa oder einen Schokoriegel. Manchmal aber auch nur seine Geliebte, Sheila (Antonia Bockelmann).
Fluchtpunkt Fahrstuhl
„Zaun“, das im Amerikanischen den weitaus genaueren Titel „Coop“ trägt (was die Bedeutung des Eingepferchtseins gleich mit transportiert), spielt eigentlich auf einer abgelegenen Farm. Doch an die assoziierbaren Lebenswelten etwa von Preppern einerseits oder aber streng religiösen Gemeinschaften wie den Amish andererseits erinnern hier allenfalls Details; das Selbstversorger-Gemüsebeet, Kleider mit Rüschenkragen und geflochtene Zöpfe. Ansonsten hat Johanna Stenzel (Bühne und Kostüm) im Studio des Bamberger Theaters aus der tristen Farm- eine bunte Polly-Pocket-Welt geformt: Die Vorderwand des Hauses lässt sich wie bei den Spielschatullen nach vorne herunter- und wieder zuklappen und die Kostüme und Perücken in ihrem Gemisch aus Bonbonfarben, Synthetikstoffen und Gummischuhen lassen ebenfalls an die Plastikwelt der Puppen denken, in der alles perfekt wirkt, gleichzeitig aber nichts echt sein kann. Averys Fluchtpunkt, ihr Anker zur Außenwelt ist in diesem Zerrbild markanterweise nicht der Zaun, der hier links und rechts am Bühnenrand allenfalls kniehoch einen dekorativen Rahmen absteckt. Vielmehr ist es ein Fahrstuhl, zu dem ihr – jedenfalls zunächst – der Zugang verwehrt bleibt. Johanna Stenzels Ausstattung ist wie ein Sinnbild für die Abwesenheit von Gefühl und die Omnipräsenz einer cisgeschlechtlichen Kindheitsprägung.
Handlung und Haltung
Genau die hebt Wilke Weermann in seiner Inszenierung besonders hervor und zeigt so, dass er hier nicht bloß die Handlung bebildert, sondern eine Haltung zu ihr entwickelt hat. Das Kleid, das Averys Onkel ihr schenkt, ist bei Weermann ein Anzug, den sie über ihr Kleid zieht: Averys eigentliche Geschlechtsidentität ist also nicht eindeutig. „Lieferjunge“, mit dem Avery sich anfreundet und den sie letztlich mit dem Mord an ihren Eltern beauftragen wird, zeigt Weermann doppeldeutlich als eine Art Alter Ego Averys: etwa, indem er beide Darsteller:innen spiegelbildliche Bewegungen ausführen lässt. Auch Marek Egerts durchscheinendes Spiel lässt offen, ob die Figur Lieferjunge real ist oder nicht. Womöglich befreit sich hier am Ende also Avery selbst, auch wenn es Lieferjunge ist, der zuguterletzt die Gedärme der Eltern aus dem Fenster wirft, während sie ein Snickers essend auf der Bank sitzt und zuschaut: Der Einbruch des Horriblen als Erlösung. Das Fazit fällt am Ende leicht: Wer dieses bemerkenswerte Stück (das 2021 übrigens als szenische Lesung durch Charlotte Sprenger beim Stückemarkt der Berliner Festspiele zu erleben war) nachspielen möchte, hat dazu gute Gründe. Diese Inszenierung durch Wilke Weermann und sein künstlerisches Team belegt, warum wir es heute, hier und jetzt sehen sollten.