Helene Weigel, Bertolt Brecht

Geburt der Legende

Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder

Theater:Berliner Ensemble, Premiere:11.01.1949Regie:Bertolt Brecht, Erich EngelKomponist(in):Paul Dessau

So also sah die Geburt der Legende aus – Anfang 1949 inszenierte Bertolt Brecht im Berlin der allerersten Nachkriegsjahre die gut zehn Jahre zuvor entstandene „Chronik aus dem dreißigjährigen Krieg“, die den haltbaren Weltruhm des Stückeschreibers mindestens so fundamental grundierte wie Ende der 1920er Jahre „Die Dreigroschenoper“: „Mutter Courage und ihre Kinder“. Das Bewusstsein vom Erleben eines Krieges, der zwar keine dreißig Jahre gedauert hatte, aber in fast vollständiger Zerstörung zu Ende gegangen war, muss dem Uraufführungspublikum in Knochen, Hirn und Herz gesteckt haben. Die Inszenierung des Heimkehrers Brecht, der aus Zürich nach Berlin kam, entstand noch im Deutschen Theater, und Brechts Gruppe hieß auch noch nicht „Berliner Ensemble“; als solches zog es bald darauf dann um ins „Theater am Schiffbauerdamm“, jenes Haus, in dem „Die Dreigroschenoper“ den Siegeszug angetreten hatte – hier, im Theaterraum, der noch heute das „Berliner Ensemble“ beherbergt, zeichnete der Deutsche Fernsehfunk, das Fernsehen der DDR, acht Jahre nach der deutschen Erstaufführung eine Vorstellung auf, die auch auf Grund der dokumentierenden Modellbücher, die Brecht von den eigenen Arbeiten erstellen ließ, im weitesten Sinne der Aufführung von 1949 entsprochen haben muss. Sie ist mit Unterstützung der Akademie der Künste bis zum 21. Mai im Netz-Portal vom heutigen „Berliner Ensemble“ zu sehen.

Und natürlich ist das ein unvergleichlicher Schatz – in allererster Linie natürlich des Ensembles wegen. Helene Weigel (die bei Brechts Tod im Jahr zuvor die Intendanz des Theaters übernommen hatte) spielt 1957 die Titelfigur, die Marketenderin Anna Fierling, die vom Krieg zu leben versucht und durch den Krieg alle Kinder verliert – und wer ihr zuschaut, kann bis in einzelne Gesten hinein die fundamentale Bedeutung des neuen Spielstils verfolgen, der Brechts Weg begleitet hatte: kühl und lakonisch, tendenziell unterspielt, aber gerade darum überwältigend in den Momenten, in den Weigels Gesicht zur Maske erstarrt und der Körper zerrissen zu werden scheint im ewigen Widerspruch. Brechts in Theater-Szenerien gegossene Dialektik unauflösbarer Konfliktstellungen, hier am Beispiel von Gewinn- und Verlust-Rechnung unter der extremen Bedingung des Krieges, ist abgebildet im Spiel von Helene Weigel; aber nicht nur dort: Angelika Hurwicz zuzuschauen, ist auch heute ein Ereignis. Sie spielt 1957 Courages Tochter Kathrin, deren Rolle Brecht stumm entworfen hatte, damit die Weigel sie auch im Exil hätte spielen können, ohne fremde Sprachen beherrschen zum müssen – der Autoren-Trick verschafft dem Stück bis heute einige der an- und aufrührendsten Momente.

Anzeige

Aber auch der junge Ekkehard Schall, Brechts Schwiegersohn, Mann der Tochter Barbara und Vater der heutigen Enkelinnen und Erbinnen Johanna und Jenny, spielt ganz erstaunlich (und schon hier extrem formstreng und „brechtisch“!) den wilden Sohn Eilif; neben ihm zeigt Heinz Schubert als grundehrlicher (und genau darum todgeweihter) Bruder Schweizerkas eine Studie der Unausweichlichkeit. Auch Ernst Busch als Koch und Wolf Kaiser als Feldprediger begleiten den Weg der Courage, Regine Lutz (Jahrzehnte später Rolf Hochhuths „Hebamme“ am selben Haus) spielt die Hure und Kriegsgewinnlerin Yvette. In einer winzigen Rolle ist obendrein auch der Ruhrpott-Schauspieler Friedrich Gnass zu sehen, der bald darauf stirbt. Überhaupt wird in ziemlich großräumig durchmischten Dialekten räsoniert – der Krieg zerstörte das Europa der Heimatregionen.

Auch die Bühne ist klassischer Brecht: natürlich mit der halbhohen Brecht-Gardine, die als Vorhang auf- und zugezogen wird; weiter hinten hängt senkrecht ein „Lappen“, mit einer Art Schützengrabung-Schanzung darüber sowie den Namen der Regionen voller Schlachtfelder: Schweden, Polen, Bayern, das Fichtelgebirge… bis zur letzten Schlacht vor Halle, in der Mutter Courage auch noch die Tochter verliert. Auch aus so vielen Jahrzehnten Entfernung erstaunen zudem die Szenen mit der Drehbühne, auf der die Courage mit wechselnder Hilfe den Planwagen zieht, der ihr Geschäftskontor ist. Zum Schluss zieht sie allein, unbelehrbar, unbelehrt – sie will wieder in den Handel kommen. Besser gesagt (oder besser: schlimmer) – sie muss.

Die Inszenierung von Brecht und Erich Engel (der ja auch „Die Dreigroschenoper“ uraufgeführt hatte) mag von heute aus eher statisch wirken; was tatsächlich die konzentrierte Arbeit ausmacht, findet in den Haltungen des Ensembles statt. Und nicht alles davon kann die Kameraführung der Fernsehregie 1957 einfangen. Spürbar wird auch, wie dem Autor und auch der Regie mittendrin die Dramaturgie zu entgleiten beginnt – wenn sie sich auf immer kleinere Details und auch auf immer mehr Komödie einlässt, speziell im Spiel von Courages Freunden, Feldprediger und Koch. Aber die Methode bleibt immer präsent, vor allem in der forcierten Körperlichkeit im Ensemble.

Natürlich sind wir im Museum zu Besuch über drei Stunden hin… aber wie in jedem guten Museum kann jeder und jede aus dem Vergangenen Einiges mitnehmen für die Gegenwart. Schauen wir von nun an noch intensiver auf das, was Schauspielerinnen und Schauspieler tun – und denken wir dabei an Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“; und an die Welt, die Menschen wie sie immer wieder von neuem vernichtet.