Foto: Beeindruckend kostümiert: die Gier (Gerd Ritter, links) und die Angst (Anna-Lena Hitzfeld). © Alex Wunsch
Text:Manfred Jahnke, am 10. November 2019
Wenn Gier und Angst sich zusammentun und es ihnen gelingt die Liebe auszuschalten, dann können sie die Weltherrschaft antreten. Obschon hier lauter mythologische Figuren agieren, erscheint die Geschichte dennoch nicht als Märchen, sondern ist gefühlte Wirklichkeit: Mit „Als der Baum mit den roten Haaren weinte“ entwickelt die niederländische Theatermacherin Hanneke Paauwe am Jungen Ensemble Stuttgart eine Parabel, die versucht, ein stetig virulenter werdendes gesellschaftliches Problem, nämlich die zunehmend klaffende Schere zwischen Reich und Arm, auszuloten – und zwar für Kinder ab acht Jahren. Wenn sie dabei dieses Thema in ein mythologisch-märchenhaftes Ambiente versetzt, so denn doch nur, um es wieder zu brechen. Da ist zuvörderst die Obdachlose, von Sabine Zeininger mit emotionaler Kraft und Empörung vorgeführt, die hier nicht nur als Einbruch der Wirklichkeit fungiert, sondern mehr noch davon erzählt, wie man im Alltag mit Armen umgeht: Wegschauen ist da noch die geringste Reaktion, wobei der Schritt zum Wegsperren dann nicht mehr weit ist.
Wie aber lässt sich die Herrschaft der Gier nach Gold in der gegenwärtigen Gesellschaft theatralisch umsetzen? Paauwe setzt dabei das Ambiente beliebter Showsendungen ein, ausgesetzt ist ein Goldpokal, den der König (Faris Yüzbaşıoğlu) unbedingt haben möchte (Achtung: Gier), aber den nach dem Zwischenfall mit der Obdachlosen niemand erhält. Auffällig allerdings, wie hier auch das junge Publikum auf den Leim geführt wird, ohne eine Chance zu haben, das eigene Verhalten – ist ja nur ein Spaß – zu reflektieren. Da darf es auf Befehl applaudieren oder buhen, aufstehen, sich auf die Bank stellen: Schlachtvieh für die Gier. In einer späteren Szene darf das Publikum abstimmen über zwei Elendsbiografien, die aus den Katakomben der Tiefengarage, wo die Armut mit der Herrschaft der Gier versteckt wurde, wieder ans Tageslicht kommen dürfen. Das spiegelt die Peinlichkeiten des gegenwärtigen Showgeschäfts, aber wird deren Reproduktion im Theater automatisch kritisch? Ach ja, ein Zehneuroschein wird auch noch an ein Kind verschenkt.
Nichtsdestotrotz ist erst einmal der Mut zu bewundern, dieses Thema Kindern zu erzählen. Paauwe beherrscht die Methode, Märchen und gegenwärtige Unterhaltungsmedien zusammenzubringen, und entwickelt dabei starke Bilder. Gerd Ritter als die Gier ist dick mit vielen Wulsten ausgepolstert, die mit psychedelischen Motiven bemalt sind (Ausstattung: Michaela Brosch). Er legt die Figur hinterhältig-freundlich an und wird eher von der Angst, der Anna-Lena Hitzfeld einen energischen Zug gibt (also gar nicht ängstlich, sondern eher auftrumpfend), vorangetrieben. Eindeutig führt bei ihm das Wohlleben nicht nur zur Verfettung, sondern macht ihn auch langsam. Umso stärker wirkt die Power der Angst, zumal sich beide nach der Ausschaltung der Liebe sicher fühlen können. Sie haben ihr die Stimme geraubt, symbolisiert durch ein feines Silberkettchen, diese in einer Fanta-Mandarine-ohne Zucker-Flasche versteckt, die Gier bei sich trägt, und sie in einen Baumstamm gesteckt, der gegen Ende rot glüht.
Zu einem guten Theatermärchen gehört eine Musik (Marie-Christin Sommer), die atmosphärisch die Stimmungen unterstreicht. Noch mehr gehören dazu groteske Kostüme, die Brosch mit großem Erfindungsreichtum geschneidert, gemalt und montiert hat, dazu gehört sehr viel buntes Licht und, sobald es spannend wird, Szenen im Halbdunkel (Lichtdesign: Jan Keller); und auch ein überwältigendes Bühnenbild, das hier von großen gerollten Leinbaumstämmen bestimmt wird, einer großen Mülltonne, in der Höhe von einem goldenen Spiralgerüst mit einer Weltdiskokugel, und Unmengen von Seilen verschiedener Dicke, die aus dem Schnürboden herabhängen und den Wald symbolisieren – aber leider dekorativ bleiben, weil sie nie angespielt werden. Vorne links ist mit Keksdosen eine Stadtsilhouette aufgebaut, mit leuchtenden Fenstern, die dunkel werden, wenn Gier und Angst die Herrschaft antreten.
Und schließlich gehört zu einer guten Märchendramaturgie, dass den Bösen ein guter Mensch mit Beistand von Helferfiguren, hier ein Seher, als Widersacher entgegentritt, um am Ende das Böse zu besiegen. Diese Rolle übernimmt die Königstochter, die nach einem Sturz aus dem Baumhaus im Rollstuhl sitzt. Milan Gather spielt diese Rolle groß aus, mit aggressiven Untertönen, die darauf hinweisen, welche große Verantwortung sie übernehmen muss. Und natürlich kann am Ende die Liebe befreit werden und wieder Wärme in die Welt kommen. Mit dieser Erlösung tut sich die Frage auf, was denn wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, angesichts der Klimakatastrophe, die der Abend natürlich auch integriert, und der Gier des Turbokapitalismus tun können? Und was ist mit den Menschen in der Tiefengarage, von denen einige zu Tode gekommen sind? Der Vorhang zu und alle Fragen offen.