Foto: "König Lear" an den Münchner Kammerspielen © Arno Declair
Text:Anne Fritsch, am 5. April 2020
„The End“ steht in geschwungenen Lettern über der Bühne, die Nina Peller für Stefan Puchers Inszenierung von „König Lear“ an den Münchner Kammerspielen entworfen hat. Denn mit einem Ende fängt alles an. Die Zeichen stehen auf Veränderung. Lear, der seine Macht an seine Töchter übergeben will, ist das Ende der Herrschaft des alten weißen Mannes. Die neue Generation, die junge und weibliche, steht in den Startlöchern.
Shakespeares „König Lear“ ist ein auch heute erstaunlich aktuelles Drama der Generationen, der Machtübergabe und -übernahme. Und eines über das Loslassen der Macht. Thomas Melle hat das Stück für die Münchner Kammerspiele übersetzt und bearbeitet. Teils wirkt die Modernisierung etwas gewollt, wenn Lear beispielsweise über sein „geliebtes Internet“ sinniert und sich um seine virtuellen „Freunde“ sorgt. Melle und Pucher setzen sprachlich und optisch immer noch eins drauf, entführen Lear in eine grellbunte Welt, in der ohne Internet gar nichts läuft. Wie langweilig wird dem König a.D., wenn das Wlan versagt (und wie nah ist er damit dem gewöhnlichen Volk in diesen Tagen).
Insgesamt ist Melle aber eine dichte und kluge Neufassung gelungen. Im Zentrum stehen die großen Machtkonflikte unserer Zeit: das alte patriarchale System, das vermeintlich am Ende ist und von einer feministischen Gesellschaft abgelöst werden soll. Die Generationenfrage stellt Melle auf verschiedenen Ebenen: Er spiegelt Lears Geschichte, indem er aus dem Grafen Gloucester eine Gräfin (und Mutter) macht, die mit ihren Söhnen ähnliche Konflikte auszutragen hat wie Lear mit seinen Töchtern. War das Leben der Kinder geprägt von „Glitzerstaub und Frieden“ oder doch eher von „Mord, Härte und Betrug“? Gibt es tatsächlich „kein Paradies ohne Höllenritt“, wie Lears Tochter Goneril am Ende konstatiert? Müssen die Eltern „entrechtet“ werden, wenn sie „alt“ sind? Muss das Alte komplett und mit Gewalt aus der Welt geschafft werden, damit Platz für Neues ist?
Melle und Pucher machen eindrücklich sichtbar, wie aus guten Absichten schlechte Taten erwachsen. Wie die Macht die Mächtigen korrumpiert und sie eben die Fehler wiederholen lässt, gegen die sie kämpfen wollten. Die Jungen, sie wollen ein Ende der Gewalt – und greifen schließlich doch auf sie zurück, um ihre Ziele zu erreichen. „Einmal müssen wir’s noch machen wie sie“, reden sie sich ein. Es bleibt nicht bei dem einen Mal.
Dieser „König Lear“ ist eine Lieblingsinszenierung. In der Erinnerung ein dichter Theaterabend, der nur so strotzt vor Spielfreude, Energie, Lust am Text und der Auseinandersetzung mit großen Fragen: nach der Legitimation von Macht, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Generationen. Thomas Schmauser und Samouil Stoyanov sind als abgehalfterter König und sein Narr ein Traumpaar, ergänzen sich wunderbar in Wahnsinn, Schmerz und Irrsinn. Ihnen gegenüber Wiebke Puls als Gloucester, die sich im grellpinken Hosenanzug in Realpolitik und Vernunft versucht, schnell aber erkennen muss, dass das Werte sind, die ausgedient haben. „Ja, mit sich selbst ins Gericht zu gehen, hart ins Gericht“, erkennt Lear am Ende, als er längst als Narr durch die Welt streunt, die er hätte regieren können. „Das ist die Notwendigkeit eines wahrhaften Lebens und heute selten wie nie.“
Dieser „Lear“ ist eine starke Ensembleproduktion, aus der man im Grunde keinen herausgreifen will. Oder andersrum: niemanden unerwähnt lassen will. Thomas Hauser, Gro Swantje Kohlhof, Jelena Kuljić, Christian Löber, Anna K. Seidel, Julia Windischbauer – jede und jeder einzelne ist Teil eines überzeugenden Ganzes. Es ist schön, diese Inszenierung in dieser Theater-Fastenzeit wieder zu sehen. Doch macht der direkte Vergleich mit dem Original leider auch schmerzlich sichtbar, wo die Grenzen des Streams liegen.
Im Stream dauert es, bis man sieht, was in der Wirklichkeit des Theaters der erste Eindruck ist: die zwei monströsen zweidimensionalen Cyborg-Krieger, die die Bühne flankieren, der Schriftzug „The End“ über dem Wohnkubus der Lears, der auch als Projektionsfläche dient. Hier nun werden bildschirmfüllend die Videoprojektionen abgefilmt, die in natura überlebensgroß sind, nun aber naturgemäß aufs Bilddiagonale-Format schrumpfen. Oft kommt eine Stimme, man weiß nicht woher, weil man nur einen Ausschnitt sieht. Es ist mitunter schwer, sich in den Ebenen, in Video, Spiel und Raum zu orientieren. Man sieht, was die Kamera einen sehen lässt, nur die Aktion, nicht die Reaktion. Was auf der einen Seite der Vorteil einer Aufzeichnung ist, ist zugleich ihr Nachteil: Die Mimik der Spielerinnen und Spieler kann herangezoomt werden, man sieht Details, die auf der großen Bühne verloren gehen. Zugleich aber wird in diesen Momenten das Gesamtgeschehen ausgeblendet, man verliert den Überblick. Auch verliert mancher im Theater magische Moment in 2D gebannt seinen Zauber. Das ist vielleicht die gute und die schlechte Nachricht zugleich: Theater ist und bleibt Theater. Und ein Stream ist ein Stream. Letzterer kann ersterem nicht gerecht werden. Wir brauchen wieder das Original, auf lange Sicht kann der Online-Ersatz nicht über das Fehlen des Live-Moments hinwegtrösten.
Online bis 6.4.20, 18 Uhr auf der Homepage der Münchner Kammerspiele.