Foto: Ensemble © Paul Leclaire
Text:Petra Mostbacher-Dix, am 1. Juli 2024
Die dystopische Romanvorlage ist fast 40 Jahre alt. Trotzdem wirkt die Oper „The Handmaid’s Tale“, die als deutsche Erstaufführung im Theater Freiburg in Anwesenheit von Komponist Poul Ruders und Librettist Paul Bentley Premiere feierte, erschreckend aktuell.
Lange weiße Haare. Blau getönte Brille. Rote Lippen. Intensiver Blick. Professor Jane Darcy Pieixoto, das Wesen aus der Zukunft. Die Archivdirektorin der Universität Cambridge begrüßt im Jahr 2195 zum internationalen historischen Symposium über die ersten monotheokratischen Staaten des 21. Jahrhunderts. Das waren der Iran und die untergegangene Republik von Gilead, zuvor USA. Grund: Der Fund eines Audio-Tagebuchs aus Gilead. Doch kaum ist Pieixoto von der Leinwand verschwunden, tauchen grausame Bilder auf, Umweltzerstörung, Giftschwaden, Seuchen, Dürren, Fluten, Geflüchtete, Kadaver, Müllhalden, Kriege, das erstürmte Capitol … Die Dramen der Jetztzeit, begleitet von einer treibenden Ouvertüre.
Das Video ist der Prolog zur Oper „The Handmaid’s Tale“, die im Großen Haus des Theaters Freiburg als deutsche Erstaufführung zu sehen ist. Sie basiert auf dem Roman von Margaret Atwood. Die Kanadierin beschreibt in ihrer feministische Dystopie „Der Report der Magd“ an der Magd Offred den patriarchalischen Gottesstaat Gilead, den die christlich-fundamentalistische Gruppe „Söhne Jakobs“ nach einem Staatstreich errichten. Dort besitzen Frauen nichts, müssen sich dem Mann unterordnen. Da aber nach nuklearem Gau und Umweltkatastrophen viele steril sind, werden die noch Gebärfähigen von ihren Familien getrennt, als Mägde ins Rote Zentrum verschleppt und von Aunt (Tante) Lydia zu „Handmaids“ umerzogen.
In kinderlosen Haushalten dienen sie – ihrer Rechte und Namen beraubt – den mächtigsten Regierenden als Gebärmaschinen. Kein Baby für den Staat? Ab in die Kolonien und schutzlos Nuklearwüste aufräumen! Also ertragen die Handmaids monatlich ein grausames Ritual: Im Beisein der unfruchtbaren Frauen werden sie vergewaltigt vom Dienstherrn, nach dem sie benannt sind. Offred – zu Deutsch Desfred – ist Eigentum des Kommandanten Fred. Eigentlich heißt sie June, Frau von Luke, Mutter einer Tochter, Kind einer der ersten Feministinnen.
Schleichendes Gift des Totalitarismus
Die Story inspirierte den dänischen Komponist Poul Ruders 1995 zu seiner zweiaktigen Oper. Der britische Autor und Schauspieler Paul Bentley schrieb das Libretto, der originalen Ich-Perspektive Prolog und Epilog hinzudichtend, so kurzerhand das Publikum zu Konferenzteilnehmenden machend. Das packt wie auch die Inszenierung in Freiburg. Regisseur Peter Carp erzählt wahrlich auf allen Ebenen dank der raffinierten Holzdrehbühne von Kaspar Zwimpfer mit Treppe und Durchbrüchen.
Die Szenen rotieren – vom brutalen Umerziehungslager über Wohnraum und Küche ins Gemach des Kommandanten. Vom schlichten Dachkämmerlein der Magd über einen kruden Laden voller anstehenden Mägde zur abschreckenden „Wall“, wo Abtrünnige hängen. Vom Geburts- und Hinrichtungsort über einen Nachtklub für der „Männer Natur“ zu einem Stundenhotel. Allenthalben schwelt Bedrohung, wachen „Augen“, auf Flaggen und in Wachmännern, wie George Orwells „Big Brother“.
Wie es dazu kam, wird rückblickend erzählt, in Lichtakzenten, hinter Gaze-Vorhängen, in beweglichen Räumen – und mit einer zweiten Offred. Zu den bewegendsten Momenten gehört das Duett dieses Doubles (Alina Kirchgäßner) mit Offred (Inga Schäfer). Das Freiburger Opernensemble liefert eine reife Leistung, intoniert gefühlvoll Rouders herausfordernde freitonale Komposition voller Rezitative und Gospel-Zitaten wie „Amazing Grace“. Wohl voranzutreiben weiß Dirigent Ektoras Tartanis die beklemmende Atmosphäre, die sich aus minimalistischen, wiederholenden Akkorden, Choralelementen und pulsenden Rhythmen à la Filmmusik aufbaut. Gabriele Rupprechts Kostüme tragen das Ihrige bei. Rote Sektenkutten und Häubchen für die Mägde, Gouvernantenlook und Gerte für Ausbilderin Lydia, die Alice Weidel ähnelt. Keine leichte Kost, aber eine notwendige Warnung vor dem schleichenden Gift des Totalitarismus. Atwood hat sie bereits 1985 ausgesprochen.