Foto: Der Performer Ruben Reniers in „Over the Edge Club (revisited)“ © Christoph Voy
Text:Jasmin Goll, am 8. Dezember 2020
Schnell noch den Online-Kauf erledigen, Zahlungsmethode wählen – und, ach, noch kurz ein Bilderrätsel lösen, um zu versichern: „I’m not a robot“. Der sogenannte „completely automated public turing test to tell computers and human parts“, kurz Captcha genannt, prüft, ob sich hinter dem Gegenüber tatsächlich ein Mensch (oder doch ein Computer) befindet. Einem solchen Turing-Test wohnen wir auch in der Musiktheater-Performance „Over the Edge Club (revisited)“ am Berliner Theater im Delphi bei, allerdings aus anderer Perspektive.
Die aufgezeichnete Performance, die ab dem 20. Dezember 2020 als Mitschnitt online zu sehen ist, hat Künstliche Intelligenz nicht nur zum Thema, sondern nutzt solche selbst. Das Ensemble gamut inc hat der Produktion ein ‚Libretto‘ von GPT-3 zugrunde gelegt. Dieses Mitte 2020 erschienene Sprachproduktionssystem hat – als technologischer Durchbruch tituliert – für viel Furore gesorgt: Es handelt sich um ein neuronales Netzwerk aus 175 Milliarden Parametern, also nachgebildeten Synapsen, das mit verschiedensten Textsorten aus dem Internet gefüttert und trainiert wurde. Dadurch ist es in der Lage, Texte nicht nur zu vervollständigen, sondern selbst zu schreiben. GPT-3 kann Texte übersetzen, coden, Sonette im Stile Dantes vervollständigen oder Gitarrentabulaturen schreiben – und eben auch einen Text für das Theater erzeugen und wird daher hier nicht nur als künstliche, sondern auch als künstlerische Intelligenz auf die Probe gestellt.
Mittelpunkt des szenischen Geschehens ist eine Superintelligenz, die als menschlicher Performer (Tanz und Choreographie: Ruben Reniers) in einem pixelartigen und zugleich expressionistisch anmutenden Kostüm (Kostüm: Anke Bruns) auf der Bühne steht. Diese Superintelligenz, deren kognitive Fähigkeiten die des Menschen weit übersteigen soll und in unserer Gegenwart noch ferne Realität ist, performed hier nicht ihr übermenschliches Können, sondern erlebt einen Traum. Sie begegnet ihren Vorgänger*innen und lässt damit in ihre Seele oder besser gesagt ihre (gecodete) DNA blicken. Chatbots und andere Künstliche Intelligenzen sind Teil des im Titel benannten Clubs und werden in Dialogen, als Chor und mit Nonsense-Satzfetzen hörbar. Darunter zum Beispiel Eugene Goostman, ein Chatbot, der sich als 13-jähriger Junge ausgibt und dem beim Turing Test daher auch Verständnisschwierigkeiten verziehen werden. Ausgestattet mit einer kindlichen Stimme beantwortet er unbedarft die Frage danach, wie viele Beine ein Kamel habe, mit „etwas zwischen zwei und vier, vielleicht drei“ und besteht trotzdem den Test, der ihn als menschenähnlich ausweist. Durch die sprachlichen Redundanzen, alogischen Aussagen der Bots, ihr stockendes Atmen bei jedem Wort, das den Sprachfluss kappt, und die Kreisförmigkeit der Gespräche gewinnt die Performance stellenweise an Komik.
Die klangliche Dramaturgie orientiert sich an den menschlichen Schlafphasen. Die teilweise algorithmisch generierten elektronischen Klänge (Komposition: Marion Wörle und Maciej Sledziecki von gamut inc) sollen sich an die Hirnfrequenzen anlehnen, was sich ohne Weiteres jedoch nicht erschließt. Der Raum wird von synthetischen, rhythmisch gesetzten Klängen, grellem Surren, dumpfem Brummen, Wummern, Säuseln und Schlaggeräuschen erfüllt, in die sich die KI-Stimmen mit ihrer Geräuschhaftigkeit einfügen. In enger Verschaltung von Klang und aktionsreicher Lichtregie entfaltet sich eine intermediale Wirkung. Mechanisch bewegt sich der Performer dazu vor mehreren blockartigen Säulen, die von Projektionen erfasst werden. Es ist jedoch kein rein technoides Setting. Die Superintelligenz oszilliert zwischen Mensch und Maschine. Der Turing-Test scheint von ihr Besitz ergriffen zu haben, sie ‚ge-captcha-t‘ zu haben. Die anfangs nicht so naheliegende Verschränkung von Künstlicher Intelligenz und dem Traumerlebnis überwindet den Dualismus Mensch–Maschine und versetzt die Superintelligenz in einen Krisenzustand.
gamut inc befragt die Entwicklung von KI, die im Begeisterungstaumel euphorisch vorangetrieben wird, und macht interessanterweise die Künstlichen Intelligenzen zu den Subjekten der Performance. Wörle und Sledziecki fragen nach deren Identität, dem Verbleib der ausgedienten Chatbots und arbeiten sich nicht am Topos von KI als Bedrohung und Ersatz des Menschen ab. Dennoch hätte man sich noch vielschichtigere kritische Perspektiven gewünscht, die etwa auch das Ideal der Menschenähnlichkeit von KI in Zweifel ziehen. Schließlich ist GPT-3, geschult an Texten aus dem Internet, etwa zu rassistischen und sexistischen Äußerungen fähig. Das kommt in der Performance nicht zur Sprache. Konkrete Vorwürfe bleiben aus. Und doch steht am Ende die Frage: War das letztlich nicht der Traum einer Superintelligenz, sondern der gegenwärtige (Alb-)Traum von uns allen?
Ein Mitschnitt von „Over the Edge Club (revisited)“ ist ab dem 20. Dezember 2020 hier abrufbar. Daneben steht eine „Streamather-Variante“ zur Verfügung, die u. a. Hintergrundinformationen in den Mitschnitt integriert.