Mittelpunkt des szenischen Geschehens ist eine Superintelligenz, die als menschlicher Performer (Tanz und Choreographie: Ruben Reniers) in einem pixelartigen und zugleich expressionistisch anmutenden Kostüm (Kostüm: Anke Bruns) auf der Bühne steht. Diese Superintelligenz, deren kognitive Fähigkeiten die des Menschen weit übersteigen soll und in unserer Gegenwart noch ferne Realität ist, performed hier nicht ihr übermenschliches Können, sondern erlebt einen Traum. Sie begegnet ihren Vorgänger*innen und lässt damit in ihre Seele oder besser gesagt ihre (gecodete) DNA blicken. Chatbots und andere Künstliche Intelligenzen sind Teil des im Titel benannten Clubs und werden in Dialogen, als Chor und mit Nonsense-Satzfetzen hörbar. Darunter zum Beispiel Eugene Goostman, ein Chatbot, der sich als 13-jähriger Junge ausgibt und dem beim Turing Test daher auch Verständnisschwierigkeiten verziehen werden. Ausgestattet mit einer kindlichen Stimme beantwortet er unbedarft die Frage danach, wie viele Beine ein Kamel habe, mit „etwas zwischen zwei und vier, vielleicht drei“ und besteht trotzdem den Test, der ihn als menschenähnlich ausweist. Durch die sprachlichen Redundanzen, alogischen Aussagen der Bots, ihr stockendes Atmen bei jedem Wort, das den Sprachfluss kappt, und die Kreisförmigkeit der Gespräche gewinnt die Performance stellenweise an Komik.
Die klangliche Dramaturgie orientiert sich an den menschlichen Schlafphasen. Die teilweise algorithmisch generierten elektronischen Klänge (Komposition: Marion Wörle und Maciej Sledziecki von gamut inc) sollen sich an die Hirnfrequenzen anlehnen, was sich ohne Weiteres jedoch nicht erschließt. Der Raum wird von synthetischen, rhythmisch gesetzten Klängen, grellem Surren, dumpfem Brummen, Wummern, Säuseln und Schlaggeräuschen erfüllt, in die sich die KI-Stimmen mit ihrer Geräuschhaftigkeit einfügen. In enger Verschaltung von Klang und aktionsreicher Lichtregie entfaltet sich eine intermediale Wirkung. Mechanisch bewegt sich der Performer dazu vor mehreren blockartigen Säulen, die von Projektionen erfasst werden. Es ist jedoch kein rein technoides Setting. Die Superintelligenz oszilliert zwischen Mensch und Maschine. Der Turing-Test scheint von ihr Besitz ergriffen zu haben, sie ‚ge-captcha-t‘ zu haben. Die anfangs nicht so naheliegende Verschränkung von Künstlicher Intelligenz und dem Traumerlebnis überwindet den Dualismus Mensch–Maschine und versetzt die Superintelligenz in einen Krisenzustand.
gamut inc befragt die Entwicklung von KI, die im Begeisterungstaumel euphorisch vorangetrieben wird, und macht interessanterweise die Künstlichen Intelligenzen zu den Subjekten der Performance. Wörle und Sledziecki fragen nach deren Identität, dem Verbleib der ausgedienten Chatbots und arbeiten sich nicht am Topos von KI als Bedrohung und Ersatz des Menschen ab. Dennoch hätte man sich noch vielschichtigere kritische Perspektiven gewünscht, die etwa auch das Ideal der Menschenähnlichkeit von KI in Zweifel ziehen. Schließlich ist GPT-3, geschult an Texten aus dem Internet, etwa zu rassistischen und sexistischen Äußerungen fähig. Das kommt in der Performance nicht zur Sprache. Konkrete Vorwürfe bleiben aus. Und doch steht am Ende die Frage: War das letztlich nicht der Traum einer Superintelligenz, sondern der gegenwärtige (Alb-)Traum von uns allen?
Ein Mitschnitt von „Over the Edge Club (revisited)“ ist ab dem 20. Dezember 2020 hier abrufbar. Daneben steht eine „Streamather-Variante“ zur Verfügung, die u. a. Hintergrundinformationen in den Mitschnitt integriert.