Giuseppe Verdis "Attila" im Nürnberger Opernhaus

Ganz schön kindisch, diese Helden!

Giuseppe Verdi: Attila

Theater:Staatstheater Nürnberg, Premiere:24.06.2017Regie:Peter KonwitschnyMusikalische Leitung:Gábor Káli

Peter Konwitschny hat am Staatstheater Nürnberg zum Ende der Saison Giuseppe Verdis „Attila“ inszeniert: Dieter Stoll war für uns dabei

Gemeinschaftskunde auf dem Schulhof: Horden von johlenden Jugendlichen ziehen, bewaffnet mit Schöpflöffeln, Klobrillen und Kochtöpfen, zu Fuß oder auf Rollern in die Schlacht um die pädagogische Lücke. Die Parole „Die Erde gehört uns“ taucht in den Übertiteln auf. Keine Pausenaufsicht weit und breit, dafür Rädelsführer mit Ansage. Einer trägt Pferdeschwanz und wird Attila Hunnenkönig genannt, sein Widerpart ist bekennender Irokese und soll als General Ezio bald Rom regieren. Erste Versuche von Austritts-Verhandlungen – nimm du die Welt, ich behalte Italien – bringen kein Ergebnis. Wenn die Mädels kreischend dazu kommen, hüpft die Betriebstemperatur im Getümmel nochmal kräftig. „Kindlich verspielt“ schreibt Regisseur Peter Konwitschny spöttisch über die ersten vier von sieben Bildern der Verdi-Oper „Attila“, die immerhin im und am Lager der „Geißel Gottes“ spielen. Später, nachdem die Kids auf offener Bühne zwanghaft zu Erwachsenen umdekoriert wurden, wird die Gemütslage mit „Ausgewachsen infantil“ bezeichnet, ehe am Ende die vernichtende Diagnose gilt: „Immer noch nichts gelernt“. Da sitzen die einstigen Repräsentanten der Klassenkeile mit Karriereschub also vergreist im Rollstuhl, allzeit bereit zur letzten Aggression auf der Pflegestufe. Wie schreckensreich! Was haben wir gelacht!

Von den patriotisch knallenden Feuerwerkskörpern, die Giuseppe Verdi zur Freude des venezianischen Uraufführungs-Publikums als Erleuchtungsbehauptung durch die geschichtsklitternde Story um Hunnenkönig „Attila“ auf kriegerischer Italienreise zischen ließ, will ein Regisseur von heute aber gewiss auch sein Publikum  nichts mehr wissen. Deshalb kämpft dieses Werk, in Deutschland sowieso, nur am äußersten Rand des Repertoires um eine zweite Blüte. Man kann es verstehen und muss es bedauern, denn musikalisch steckt schon der ganze Verdi im kurz vor „Macbeth“ entstandenen Stück, noch ohne den späteren Feinschliff, aber eben dadurch von uriger Dramatik. Bio-Oper sozusagen, in aller Emphase von emotionsgedüngter Reinheit. Für Peter Konwitschny, der nach seiner zeitweiligen Schaffenskrise nun schon wieder seit einigen Jahren in strategischer Verfremdungs-Hochform die alten wie die neu verhärteten Konventionen mit schlankem Fuß vom Spielfeld kickt, muss das eine besondere Verlockung gewesen sein. Eine reizlos gewordene Text-Vorlage, von der sich die reizvoll gebliebene Musik längst emanzipierte, bringt ungeahnte Interpretations-Freiheiten. Er nutzt sie, man darf es wohl ohne Wertungsabsicht so sagen, völlig skrupellos.

Die Konwitschny-Inszenierung von „Attila“, in der ersten Fassung am Theater an der Wien entstanden und in Nürnberg mit anderen Sängern neu durchgewalkt, unterschiebt Giuseppe Verdi eine fast lebenslang, bis zum späten Wunder „Falstaff“ nie geglückte Komödie, indem sie das Drama ruckartig zur Satire wendet. Es geht nicht mehr um vaterländische Bekenntnisse, die wie ein doppelter Saum in Heldenposen und Liebeswirren eingenäht sind, sondern um die ernüchternde Erkenntnis hinter dem Pathos. Dass „Völker und Regenten niemals etwas aus der Geschichte gelernt haben“, wird Hegel als Zeuge dieses Konzepts zitiert. Ob der Philosoph nach dieser schockierenden Erkenntnis spontan in irres Gelächter ausgebrochen ist, wurde nicht überliefert. Bei Konwitschny darf man davon ausgehen.

Der Bühnenbau von Johannes Leiacker besteht aus einem architektonischen Rundhorizont von verschlissener Pracht, dessen durchlöcherte Fassade wahlweise an kriegerische Handlungen oder Zustände in Grundschulen denken lässt. Darin hat der attackierende Chor (von Tarmo Vaask souverän einstudiert) als wesentlicher Hauptdarsteller viel milde choreographierten Auslauf, während Attilas Lager für Albtraum-Zwischenspiele auf ein Einmann-Zelt in freier Umgebung schrumpft. Beim großen Bankett wiederum wird jeder Quadratzentimeter für Action genutzt und wenn der Sturm leere Rollstühle wie gespenstische Miniaturpanzer für den letzten, immer noch unbelehrbaren Willen zur organisierten Gewalt hereinweht, ist das ein beklemmendes Bild. Leider wird es mit Comedy-Anhang verspielt, denn Konwitschny reiht die Protagonisten dann zur rollenden Muppetshow an der Rampe auf. Wo etwa Hans Neuenfels in der vergleichbaren Final-Szene von Verdis „Macht des Schicksals“ die steinalt gewordenen Kämpfer mit Krückstöcken so irre uneinsichtig aufeinander einschlagen ließ, dass der Wahnwitz wie Schocktherapie wirkte, darf der Zuschauer hier befreit lachen. War wohl doch nicht so ernst gemeint: Ganz schön kindisch, diese Helden!  

Das ist das unauflösbare Problem von Konwitschnys Verdi-Revue. Indem er die natürlich in jedem Moment emotional aufgeladene, von Mitgefühl gelenkte und jeglicher Spaßmacherei ferne Musik wie ein Trampolin für satirische Hochsprünge nutzt, muss er während der zweistündigen Aufführung fortwährend sein Konzept gegen das Original  verteidigen. Ganz stilsicher ist er da, wo es um den Unterschied zwischen Satire und Parodie geht, nicht immer. Aber es entstehen überrumpelnd witzige Nummern, wenn sich etwa der Römer-General (mächtig dröhnend: Mikolaj Zalasinski) so stolz in seine Helden-Arie verkrallt, dass er auch nach mehrfachen Attentats-Schüssen immer wieder aufgerichtet zurück in die klingende Endlosschleife der großen Pose krabbelt, bis er schließlich vom Ordnungsdienst abgeräumt wird. Aber: Geht es da um Heldentum oder Opern-Eitelkeiten? Oder wenn dem Hunnenkönig (Nicolai Karnolsky, groß in Form, deutlich besser als zu Saisonbeginn in Konwitschnys „Boris Godunow“) ein paar Kinder sein Zelt überm Kopf wegziehen und statt des rabiaten Großmauls ein Häuflein Elend mit Angst vor Geistern zum Vorschein kommt. Um Einfälle ist die Regie sowieso nie verlegen: Mal wird ausführlich „Russisch Roulette“ mit Knall gespielt, mal fahren Comic-Sprechblasen in die Szene („Uns umgarnen finstre Mächte“, wird da launig aus anderen Opernwelten gegrüßt) und mal flattern Papiervögelchen im stehenden Formationsflug an der poetisch gemeinten Arie entlang. Helena Dix, die schönste Stimme im Ensemble, hat ein Lächeln dafür und lässt sich nicht von der Lyrik ablenken. Das gelingt David Yim in der Jammer-Rolle ihres Verlobten nicht so leicht – sein Foresto ist bloß „komisch“.

Dirigent Gábor Káli bleibt, ein paar Regie-Schüsse abgerechnet, gläubig beim Original. Das ist so gedacht und funktioniert in der Reibung der Gegensätze ganz gut, wenn der wuchtige Soundtrack die tändelnde Szene umspült oder manchmal auch die Regie übermütig am Podest des Denkmals rüttelt. Káli produziert mit der Staatsphilharmonie den satten Verdi-Klang der frühen Jahre, nimmt die schroffen Kanten als Qualität und schiebt diskret an, wo die Konvention auf die Kriechspur gerät.

Der Unterschied zwischen dem früheren Verdi von Konwitschny, als er in seiner „Aida“  der Antwort auf die bis heute berühmtere von Neuenfels  den Triumphmarsch wie eine Karnevals-Polonaise durchs Wohnzimmer lenkte, ist eindeutig. Damals hatte er Verdis Pathos mit lockerer Hand  zugespitzt, diesmal hat er es mit festem Tritt unterlaufen. Dem Zuschauer bleibt die Einordnung der Reiz-Karambolagen. Dechiffrieren zum Amüsieren? Aber gerne doch!