Die Atmosphäre ist also bereitet für den so genannten Prälatenkrieg. Lüneburg war vom 14. bis ins 15. Jahrhundert hoch verschuldet (z. B. durch den Neubau der Stadtmauer) und versuchte den Bankrott durch eine Reichensteuer zu verhindern. Die geschäftstüchtigen Chefs der katholischen Kirchen, Klöster und Stifte, die Prälaten, besaßen die Anteilsmehrheit an der örtlichen Salzproduktion, verdienten damit viel Geld, von dem sie jeden „vierten Pfennig“ abführten. Nun verlangte die Steuererhöhung die Hälfte aller Einnahmen. Es folgte ein machtpolitischer Rechtsstreit, der erst nach Eingreifen von Kaiser und Papst geschlichtet werden konnte. Die von Mansberg und Regisseurin Nilufar K. Münzing geschriebenen Dialoge gehen in der Konfliktdarstellung recht weit, oktoberrevolutionäre Umstürze werden gefordert, von Enteignung ist die Rede. Religionskritik kommt in Kabarettmanier zu Wort wie auch Spott über die hochmütigen Lünebürger. Bürgermeister Springintgut und Probst Scharper personifizieren weltliche und geistliche Macht, funktionieren aber nicht als die angekündigten Helden, zu egomanisch befeuern und nutzen sie den Prälatenkrieg, „Gier“ wird ihnen vorgeworfen – wie den Verantwortlichen unserer immer noch aktuellen Banken-/Euro-Krise.
Aber derart anspielungsreich Stadthistorie lebendig werden lassen, verweigert die Aufführung. Da Geschichtsunterricht auf der Bühne „doch langweilig ist“, so von Mansberg, setzt er auf die „ganz großen Gefühle“: zwei ausgedachte Liebesgeschichten. So muss der Probst die Frau des Bürgermeisters begehren (und umgekehrt) sowie eine Generation darunter noch Romeo-und-Julia-Kitsch gefeiert werden. Komponist Thilo Wolf versteht es zwar, seine Bigband-Arrangierkunst für die Lüneburger Sinfoniker nutzbar zu machen, versucht mit der Partitur aber nie, das Geschehen auf musikalischer Ebene zu erzählen, reiht nur Lieder aneinander: Folk-Ballade, Musical-Schnulze, Kuschelrock-Song, schlagzeuggestützte Opernarie. Klangfarbenprächtig ausgearbeitet dazu einige reizvoll ironische Chorszenen. Auch das spartenübergreifende Arbeiten funktioniert nur teilweise. Tenor Karl Schneider gibt dem Bürgermeister beispielsweise mit gesanglicher Strahlkraft und lässiger Schauspielkunst auch psychologisches Profil. Schauspielerin Ulrike Gronow gestaltet die Bürgermeistergattin angenehm selbstbewusst aus, weiß mit wackelig dünnem Gesang aber so gar nicht zu überzeugen. Dagegen prunkt Kasper Holmboe mit donnerndem Musicalbariton, wirkt allerdings durch sein peinvoll outiertes Spiel, dieses pathetische Gestikulieren und die eckig-kraftmeiernden Bewegungen, wie ein Fremdkörper.
„Tod im Turm“ ist kunsthandwerklich deutlich schlechter als die Hightech-Musicals in Hamburg und deutlich besser als die in Lüneburg spielende ARD-Telenovela „Rote Rosen“: Stadtmarketing im Musiktheaterniemandsland.