Foto: Ensembleszene © Andreas Lander
Text:Roland H. Dippel, am 11. April 2016
Der Bühnenhimmel über dem Vielvölker-Schauplatz Galizien strahlt hellblau beim Magdeburger Ballett. Und es strahlt die gesamte Kompanie: Hier hat das romantische Handlungsballett „Coppélia“ Aplomb wie in den internationalen Metropolen. Neben dem eigenen 22köpfigen Ensemble gibt es mehrere Gäste, vier Elevinnen der Staatlichen Ballettschule Berlin und Statisterie. Volles Aufgebot für ein Exempel in frenetischer Ballettomanie.
Das ist so satt und üppig, gerade weil man die in Nuitters und Saint-Léons Adaption verbliebenen Motive aus E. Th. A. Hoffmanns „Der Sandmann“ keiner dramaturgischen Verjüngungskur unterzieht: Also keine Roboter-„Frauen von Stepford“, keine Roboter-„Eva der Zukunft“ oder Roboter-„Frau zum Abschalten“.
Ballettchef Gonzalo Galguera, sein Team und die Kompanie brennen für das Werk, deshalb passt diese Linie genau. Wer dazu unbedingt ironische Distanz braucht, kann diese in den erlesen stilisierten Folklore-Kostümen entdecken. Da greift Stephan Stanisic mit textilen Ornamenten, gestickten Applikationen und flachen Tuit-Tuits mit verschiedenen Radialstufen massiv in die Vollen. Juan Leon verschlankt rundum die den Platz umrahmenden Häuser und zieht sie in die Höhe. Also thront die Puppe Coppélia, wegen der Franz seine Verlobung auf’s Spiel setzt, in mysteriöser Halbdüsternis hinter einem pseudogotischen Kirchenfenster.
Die (post-)romantische Ikonographie bricht sich an kraftstrotzender Edel-Folklore. Das physikalische Kabinett des Coppelius mit Märchen-Chinesen und –Rittern glitzert später unter einer Räderuhr wie in „La Boutique fantastique“ oder im schwarzen Boudoir von Blaubarts Frauen.
So vital und zackig wird getanzt in diesem nostalgischen Ambiente, dass es eine Riesenfreude ist. Sofort mit Beginn des Premierenabends zu 100%. Der technische Standard ist hoch: Die Quartett-Gruppen der Freundinnen und Freunde des Hauptpaares zeigen Präzision und untereinander pulsierende Dynamik in allen parallelen und sukzessiven Bewegungen.
Galguera realisiert das klassische Schrittmaterial mit kompakten und virilen Zugriff. Die Feinabstimmung zwischen Körperlichkeit und sphärischer Enthebung tendiert leicht zur Bodenhaftung. Das verhindert geschmäcklerisches „Flügelschlagen“. Galguera zeigt Emotionen nicht nur für seine erwachsenen Étoiles. Die unterschiedlich großen Kinder beim Ringelreihen zum Glockengießerfest machen gerade ohne Gardemaße gute Figur.
Schon im ersten Divertissement, zu den Mazurka- und Csárdás-Gruppen in der zweiten Hälfte des ersten Aktes sind die Intonationsreibungen aus dem Graben überwunden. Michael Lloyd hält Tanz und Orchester miteinander im synergetischen Puls. Später träufelt die Magdeburgische Philharmonie etwas Parfüm zu, genau in der richtigen Dosis. Die berühmten Nummern – eigentlich ist Léo Delibes‘ Partitur eine lückenlose Hitparade – kommen schlackenlos.
In einer dem Original nahen Choreographie haben Tänzer des Protagonisten Fritz oft das Nachsehen. Zwischen der Schwärmerei für den Automaten und den glückenden Finten seiner Swanilda, um ihn zu gewinnen, bleibt wenig Entwicklungsraum. Daniel Smith bricht aus der Softie-Fixierung forsch aus und zeigt die größte Lust in den Grands Jetés des finalen Pas-de-deux: Dieses Kraftpaket ist ein ebenbürtiger Partner für seine persönlichkeitsstarke Swanilda.
Lou Beyne formt ihren Primaballerinen-Part zum bipolaren Charakter: Bewegungslyrik und Freude an der Burleske als einmalig ausgelebter dunkler Wesensseite, einen solchen Kontrast schärft sie raumfüllend. Galguera kann das zentrale Paar im Finale ohne Weiteres aus der Handlung in die Absolutheit des Tanzes entlassen: Stürmischer Applaus zu Beynes Fouettés! Zum harmonischen Schluss holen die Liebenden Coppelius in die Mitte, der jetzt auch zur bunten Gemeinschaft mit bunter Willkommenskultur gehört.
Erst hätte man meinen können, dass dieser skurrile Herr im Gehrock mit Zylinder – ganz wie gehabt – etwas zu harmlos ist für die Schauder des technischen Fortschritts, denen er sich diabolisch verschreibt. Im Laboratorium des zweiten Aktes erklärt sich das: Juan Pablo Lastras Sanchez lässt in der Charakterszene mit Swanilda, die er für den belebten Automat Coppélia halten muss, den manisch besessenen Wissenschaftler hinter sich. Da leuchten auf einmal seine Augen. Lastras Sanchez steuert in dem Maße Emotion zu, in dem Beyne genau absetzt zwischen der Figur Swanilda und ihrem Rollenspiel als Automat Coppélia. Da kommen etwa 15% modernes Menschenbild in die klassische Choreografie.
Am Ende stürmischer Applaus für einen durch und durch ehrlichen Abend des Magdeburger Balletts: Für bewegte Emotion, Kurzweil, Emphase und Harmonie.