Sogar im konzeptgenauen Kulturflair der Klassikerstadt gibt es Zufälle. Voriges Jahr brachten Gerd Amelung und Nils Niemann die Kantate „Der gefangene Amor“ von Giuseppe Scarlatti in musikalisch und szenisch informierter Aufführungspraxis heraus. Mit etwas anderer Handlung als bei Wieland lässt Diana bei Scarlatti den losen Schelm Amor fesseln, weil sie seine tollen Streiche fürchtet und strafen will. Die Ausstattung dürfte im 1774 abgebrannten Opernsaal des Schlosses ähnlich ausgesehen haben wie bei Scarlatti im Liebhabertheater Schloss Kochberg 2021. Der Weimarer Generalintendant Hasko Weber setzte die einstündige „Serenata“ (so nannte man bis 1789 alle szenischen Vokalwerke, die nicht für Theater bestimmt waren) „Aurora“ dezent auf die Vorbühne des DNT. Dahinter agierte die Staatskapelle Weimar mit etwa der Personalstärke wie unter Franz Liszt zur Uraufführung von Wagners „Lohengrin“.
Ehre und Spott
Es hatte fast das Understatement einer Offenbachiade, wenn Weber sich in seiner Spielleitung auf die Positionen der drei Hauptfiguren konzentrierte. Wahrscheinlich hätten die drei Primadonnen die Farbentscheidung für das Rot und Schwarz ihrer Galakleider problemlos ohne Philip Rubners Stilberatung hinbekommen – die Posen zu ihren wirkungsvollen Partien auch.
Kurz vor Schluss lassen Wieland und Schweitzer doch noch einen Quoten-Mann erscheinen. Daniel Blumenschein singt die schlichte Schäfer-Schwärmerei für die Weimarer Landesmutter angemessen exzellent. Eine Komparsin macht zum Schlusschor mit Anmut und Würde die von Wieland und Schweitzer der herzoglichen Adressatin zugedachten Honneurs. Chorleiter Jens Petereit suchte da wie DNT-Chefdirigent Dominik Beykirch sein Klangvorbild eher beim späten Beethoven als in der frühen Goethezeit.
Die Handlung zeigt gleich mehrere Geistesverwandtschaften der Spötter Wieland und Offenbach. Die Jagdgöttin Diana und Aurora, Göttin der Morgenröte, treffen in aller Fraugottsfrühe ‚zufällig‘ aufeinander, diesmal ausnahmsweise nicht wegen irgendwelcher Männergeschichten. Diana unterläuft ein fast verhängnisvoller Fehler, wenn sie den schlafenden Amor für ihren Lover Endymion hält. Die drei Götterwesen tun sich schnell zusammen, um Anna Amalias Jubelfest vorzubereiten: Anna Amalia – die „Schäferin“ ihrer Untertanen, die „Königin“ der Kultur, die „Mutter“ ihres wirtschaftsschwachen Herzogtums! Ein Arien-Fest mit allen Ehren.
Musikalische Opulenz gemeistert
Wieland in einigen Selbstanspielungen auf seine ironischen Antikensujets und Schweitzer mit der Ambition nach den höheren Weihen der Opernkomposition unternehmen einen Streifzug durch vier um 1770 modische Klang-Kategorien: Diana die Pathetische, Aurora die Virtuose, Amor der Empfindsame und als Adressat: ein schöner Schäfer, der diesmal nicht Paris heißt. Die drei Diven gehören zum Weimarer Ensemble, zwei sind fast und eine ganz makellos. Es erstaunt, wie Amor bei Schweitzer jenen innigen und deshalb gar nicht flatterhaften Liedton anschlägt, den Mozart ein Jahrzehnt später für seine jungen Frauenfiguren kultivieren wird. Dadurch hat es Emma Moore auch am einfachsten. Ylva Stenberg fällt als Aurora die Aufgabe der Hürdenlauf über die mehrfach in stratosphärische Höhen aufsteigenden Koloraturen zu. Zum Glück ist sie keine kleine Silberstimme, sondern eine starke Amazone mit pfeilscharfen Attacken. Im Koloraturenolymp wird Stenberg etwas fest, trifft jeden Ton aber mit entwaffnend sicherer Ehrlichkeit. Das führt zu Jubel und Respekt, berechtigt. Am fortschrittlichsten artikuliert sich Diana, bedacht mit einer mehrsätzigen Solokantate. Für Heike Porstein bedeutet das eine Anstrengung wie Konstanzes „Marternarie“ in Mozarts „Entführung“ und darauf Beethovens Leonore-Arie in der noch längeren Urfassung. Diana ist die schöne Seele in Emotionsturbulenzen von fast frühromantischer Eindringlichkeit. Heike Porstein liegt das Hochsentimentalische noch mehr als das Hochdramatische – ein Sieg sängerischer Kultur gegen Schweitzers vokale Extremsport-Forderungen.
Dieser Weimarer Wieland-Hommage gelingt trotz semikonzertanter Exekution etwas sehr Schwieriges. Der dramatische Aplomb kommt von den Stimmen und den Instrumenten, also ganz aus der Musik. Erst führte Dominik Beykirch mit der Staatskapelle die Hörenden etwas in die Irre. Die einleitenden Phrasen klangen dicht und fast dick – wie Festspiel-Mozart aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Dieses philharmonische Glatteis bricht erst, als die Hölzer die Führung beanspruchen. Dann wird’s transparent, inspiriert und richtig, auch stilistisch schön. Aber Beykirch verhehlt trotzdem nicht, dass sein Dirigentenherz mehr für Beethoven und Cherubini schlägt als für Weilands und Schweitzers melodische Empfindsamkeit und Galanterie. Trotzdem war zu hören, wie Goethe vor Neid kurzfristig blind war. Er hätte besser titeln sollen: „Göttinnen, Heldinnen und Wieland“!
Ausschnitte der Wiederentdeckung sind am 6. August 2022, 19.05 Uhr bei MDR KULTUR und MDR KLASSIK zu hören.