Foto: Das Ensemble liest © Theater Krefeld Mönchengladbach
Text:Andreas Falentin, am 18. Mai 2020
Es gibt eine seriöse (noch Minder-) Meinung in der Theaterszene, nach der die Klassiker auf der heutigen Bühne nichts mehr verloren haben. Weil der Anteil des potenziellen Publikums, der in der Lage ist, mit der alten Sprache und den überkommenen Strukturen nicht nur etwas anzufangen, sondern diese gar mit der eigenen Zeit der eigenen Lebenswirklichkeit zusammenzubringen, arg gering sei. Der Umgang mit Schillers letztem Stück, der jetzt aus Corona-Not am Theater Krefeld Mönchengladbach gepflegt wird, liefert Argumente dafür. Und dagegen.
Am 16. Mai hätte „Wilhelm Tell“ in Krefeld Premiere haben sollen. Was gleich doppelt nicht ging. Weil kein Publikum ins Theater darf und weil erstmal Wege gefunden werden mussten, wie man in Virus-dominierten Zeiten überhaupt probieren kann. Wie in anderen Bereichen suchte das Theater Krefeld Mönchengladbach auch hier eine Lösung, die sich innerhalb der administrativ vorgegebenen Regeln bewegt, den Betrieb lebendig hält und dem Publikum etws bietet. Man entschloss sich also, am geplanten Premierentag eine Lesung zu streamen, die zwar nicht im engeren Sinne Theater ist, aber viel über die geistige und künstlerische Auseinandersetzung aller Beteiligten mit Stück und Stoff verrät.
Das Ensemble sitzt im Kreis.Ton, Bild und die Kameraführung von KRähnennest-TV sind auf hohem Niveau professionnell. Es wird – einfach gelesen. Ein Erzähler (Bruno Winzen) liefert auch die Regieanweisungen mit. Die Adelsnebenhandlung ist gestrichen, der Rest gestrafft, so dass das Ganze 80 Minuten dauert. Es wird sorgfältig gesprochen. Man hört gerne zu. Zumal der ohnehin packende Beginn mit Raafat Daboul als fliehender Notwehr-Mörder Baumgarten ein starkes, panisch fremdsprachlich auskeilendes Zentrum hat. Bevor man dann im meditativen Blankvers-Flow versinken kann, hält die Textfassung von Regisseur Matthias Gehrt und Dramaturg Thomas Blockhaus erste Irritationen bereit. „Es gibt kein weiter so“ gibt da Gertrud Stauffacher von sich und spricht von verschmutzten Gewässern. Was nicht bei Schiller steht, wie ein kurzes Nachschlagen in der Werkausgabe ergibt, aber gut passt. Ein Thema ist gesetzt. Die Rebellion, die Einigung erfolgt hier nicht ausschließlich gegen und wegen Herrscherwillkür und aus Freiheitsdrang, sondern zum Erhalt des eigenen Landes – vor allem im materiellen Sinn. Dazu wird der Begriff „Heimat“ hübsch ambivalent umspielt.
Das funktioniert, bereichert sogar den Text, solange es vorsichtig subkutan eingestreut wird ins Versdrama. Wenn die thematische Setzung sich vor Sprache und Handlung stellt, wenn sie wütend und nicht mehr spielerisch daherkommt, hört man nicht mehr gerne zu. Zumal zu merken ist, dass diese Lesung eher an- als durchgeprobt ist. Dass einzelne Ensemblemitglieder ihre klare Haltung zu Text und Lesart während der Performance erst finden müssen (etwa Adrian Linke als Stauffacher) oder sie im Laufe des Geschehens ansatzweise wieder verlieren. Intendant Michael Grosse etwa als Geßler beginnt aufregend als müder, blasierter, vom Besitz der Macht verrohter Beamter – und endet doch als, wenn auch professionnell zurückgenommener, konventioneller Bühnenschurke. So scheint in vielen Bereichen die Richtung klar vorgegeben, aber künstlerisch noch nicht konsequent gelebt. Aber bis zur szenischen Premiere, die es hoffentlich irgendwann geben wird, wird ja noch geprobt.
Und man kann sich durchaus an vielem erfreuen, etwa an herausragenden Sprechern wie Esther Keil und Ronny Tomiska, die Schillers alte Sprache auf faszinierende Weise beleben. Oder an Paul Steinbachs Titelfigur, Sympathieträger von Anfang an, sanfter und fatalistischer Eigenbrötler, der jederzeit bereit ist, alles zu wagen, um sich und den seinen unter den nie in Frage gestellten vorgegebenen Regelnn und Gesetzen den größtmöglichen Freiraum zu schaffen. Allerdings überfrachtet sein neu aus Versen Hölderlins und Phantasien und Zitaten über die aktuelle Nachhaltigkeitsdiskussion zusammengestellter Schlussmonolog die vorgegebene Dramenstruktur. Jetzt steht der Protagonist nicht mehr als integrer Einzelgänger der sich vereinigenden Gruppe gegenüber, sondern macht sich sozusagen zu ihrem Hausphilosophen. Und das zerhaut rückwirkend die ganze Werk-Dramaturgie ohne neue Blickwinkel zu öffnen.
Und dennoch: Zur Premiere im Theater käme ich gern.