Foto: Bielefelder Tanzensemble im Rausch, vorne: Alexandre Nodari. © Joseph Ruben
Text:Jens Fischer, am 25. Oktober 2020
Körperstolz mit einladenden Gesten und knickschreitender Eleganz stolziert das zehnköpfige Ensemble aus dem Rückraum entschlossen an die Rampe der in aller Regenbogenfarbenpracht schillernden Bühne, die durch Torbogen-Aufsteller perspektivisch ins Unendliche verlängert scheint und später auch noch durch wogende Glitzervorhänge geschmückt wird (Ausstattung: Sebastian Ellrich). Stets seitwärts treten die Tanzenden ab und auf der Hinterbühne wieder auf. So imaginieren sie eine Lebensfreude propagierende Demonstration als Aufmarsch gegen herbeiwehenden Herbsttrübsinn und stressiges Unbehagen, das die Pandemie schon länger keimen lässt und gerade gedüngt wird von rasend steigenden Corona-Infektionszahlen.
Aufgrund eines Inzidenzwertes von annähernd 100 im Risikogebiet Bielefeld darf das Stadttheater nur besonders spärlich besetzt werden und alle Besucher müssen auch während der Vorstellung Maske tragen. In dieser atmosphärisch beklemmenden Gesamtsituation wirkt es natürlich verheißungsvoll, wenn Tanztheaterchef Simone Sandroni seine neue Choreografie „Im Rausch“ betitelt und „ein ekstatisches“ Erlebnis verspricht, das alle aufgestauten Gefühle und Energien befreien soll, „die wir in der Zeit des social distancing nicht ausleben können“. Ja, könnte es nicht gerade jetzt helfen, in tänzerischer Hingabe die Faktizität der Welt zu überschreiten, sich in Trance zu tanzen, Intensitätszustände physischer Exaltation als Glücks- und vielleicht sogar Transzendenzerfahrung zu genießen? Denn kaltgestellt in seiner aktiv ausgekosteten Sehnsucht nach Nähe, Berührung und Interaktion mit seinesgleichen wirkt das Berufsinstrument der Tänzer in jüngster Zeit. Mit dem Siegeszug von Covid-19 hat es sich in eine besorgt beäugte Gefahrenquelle verwandelt. Nicht anfassen, nicht umarmen, stets voneinander abrücken – das ist wenig erquicklich für jedermann und wirkt künstlerisch eher destruktiv für Menschen, die täglich ganz bewusst mit dem Körper kommunizieren.
Gewandet in antikisierende Festtagskleidchen, kehren sie nun zurück, die Tanzkörper. Immer verzückter beschleunigen sie aus Posen heraus und bieten die klassische Tanzmoderne des Kreiselns und Drehens dar, führen auch eine große Variation an Schrittkombinationen vor, die mal auf die Ballettgeschichte verweisen, mal sportiv daherkommen. Anbetungsblicke schicken die Tanzenden dazu gen Himmel, der mit Silberflitterregen antwortet, in dem sich eine Künstlerin suhlt. Das fröhliche Marschieren gewinnt bald etwas Zeremonielles. Als würde eine Ritualhandlung des Dionysos-Kultes vorbereitet mit dem Ensemble als tanzenden Mänaden und trunkenen Satyrn, in rauschhafter Verzückung des Kontrollverlustes. Theaterbesucher dürfen dabei aus einem Versteck (dem abgedunkelten Parkett) wie einst Pentheus zuschauen, allerdings in der Hoffnung, anschließend nicht wie der Herrscher Thebens von den unbändig Rasenden zerrissen, sondern von ein paar Funken der lodernd entfesselten Kraft elektrisiert zu werden.
Aber Rausch, Ekstase sinnlich zu feiern und formal zu sezieren, also zu choreografieren, ist ja leider ein Widerspruch in sich. Entgrenzungen formatieren, das geht nicht. Daher versucht Sandroni erstmal den Angst-Lust-Reiz der Grenzüberschreitung sowie den Widerstreit zwischen Chaos und Ordnung zu gestalten. Und so streben die Bewegungen häufig nach Befreiung, werden hüpfender, lockerer, wilder. Spielerischer. Auch ironische Einsprengsel wie eine Kasatschok-Einlage sind Ereignis.
Archaisierend perkussionierte, geklatschte und umflötete Rhythmen durchziehen die dynamisch antreibende Musik Marc Lohrs, der nach und nach Techno-Beats hinzumixt. Woraufhin „Im Rausch“ manchmal wie im Partykeller ausschaut. Oder wie eine laszive Gay-Club-Dance-Show. Es gibt zudem Friedrichstadtpalast-würdige Momente, rhythmische Sportgymnastik, Tik-Tok-Tänze, Anbaggerei-Regungen. Alles ist dabei, was Spaß macht und gut aussieht. Etwa das Kontrastieren einiger Soli durch den Bewegungschor der Kollegen. Die Aufführung hält auch mal kurz inne, wenn jemand seine Sexyness tanzt, lustvoll sich selbst genügend. Unter dem strengen Blick einer Kollegin verstummt er, kratzt sich unsicher und wird von ihr zu einem Pas de deux mit kraftstrotzender Physis animiert.
Grundsätzlich scheinen die Tanzenden zu allem fähig und bereit, aber die Choreografie steigert sich einfach nicht spiralförmig ins Rauschhafte, bleibt kontrolliert bei sich anstatt außer sich zu geraten. Verausgabung ist zwar angesagt, aber keineswegs zerstörerisch, nicht mal verstörend. Urgewalten inklusive ihrer destruktiven Tendenzen scheinen in den Rauschfigurationen kaum auf. So bleibt alles unverbindlich gut gelaunt und verbreitet etwas frühlingshaft Optimistisches. Euphorisch Entkrampfendes. „Im Rausch“ funktioniert als sonnig-seliger Widerspruch zum erstarrten Dasein in der Erwartung eines neuen Lockdowns. Und dementsprechend auch als Labsal für die Seele – wie die stehend dargebrachten Ovationen des Publikums bezeugen.