Foto: UA "Die Reise ins Eis" am Theater Paderborn © Meinschäfer
Text:Jens Fischer, am 1. Juni 2015
Leibesfülle – verweist hier nicht auf lebenspralles Genießertum. Dies ist keine Adipositas-Tragödie. Nicht einmal sehnsuchtsfett wirkt dieser Josef Mazzini, den Max Rohland mit hängenden Schultern, schleppend tapsigem Gang und achtlos textilisierten Körpermassen spielt. Statt eine Liebesbeziehung zu sich selbst zu pflegen, ist er der Welt verloren gegangen und das geworden, was seine Untervermieterin Anna Koreth wortspielerisch im Namen führt: ein Anachoret, ein Einsiedler. Sein Leben möchte er als Geschichte des Verschwindens zu einem Ende führen und hat dazu endlich die richtige Rahmenhandlung gefunden. „Ich inszeniere die Chronik der Payer-Weyprecht-Expedition vor den Kulissen der Wirklichkeit“, sagte er, will in der historisch verbürgten k.-u.-k.-Polareroberungsreise ein- und aufgehen. Unsterblich werden. Es soll poetisch klingen, meint aber wohl ganz prosaisch: Selbstmord. „Ein privater Trauerfall“. So konzentriert Katharina Kreuzhage den Debütroman des Dichters letzter Welten, Christoph Ransmayr, in der Uraufführung ihrer Textfassung. Eliminiert ist die Ebene des auktorialen Autors, der den Leser am Verfertigen des Buches teilhaben lässt, aber auch essayistische Exkurse einbindet über den ewigen Traum vom Entdecken, für die Abenteuerlust und wider alle Helden-Mythen. Auch wird am Theater Paderborn der Bruch gekittet zwischen Fiktion (Mazzini-Handlung) und Fakten, vor allem den zitierten Tagebucheintragungen der Expeditionsteilnehmer: „Fossilien einer unwiderholbaren Erfahrung.“ Nun ist es Mazzini, der ransmayrt, also sich aus dem Recherchematerial (Aufklärung) mit eleganter Fabulierlust eine wiederverzaubernde Reisereportage bastelt: Was gewesen sein könnte. Das präsentiert er seiner selten einmal in direkter Publikumsansprache reflektierenden, nie richtig als Dialogpartnerin angelegten Anna (Anne Bontemps). Die leidet am „einseitig empfundenen Gleichklang der Seelen“. Und an der Quasselstrippennatur ihres Gegenübers.
Während in Ransmayrs selbst gelesener Hörbuchfassung in nuancierter Artikulation durchaus die Tonlagen der unterschiedlichen Quellen voneinander abgesetzt werden, amalgamiert Rohland das objektive Beschreiben eines Historikers mit dem subjektiven Nachbilden eines Literaten in einem unendlich ruhigen, nie dramatisierenden, betulich monotonen Erzählfluss. Souverän surft er auf den Sprachwellen des Wortsetzkünstlers, taucht aber nie hinab. Was alles zum Theaterclou des Abends passt: Kreuzhages regiemeisterlich karge Verschmelzung der Erzählebenen. In schmuddelig warmgelbes Licht getaucht ist auf der linken Bühnenhälfte in 70er-Jahre Schäbigkeit ein Wohnarbeitseinsamkeitsstübchen zu sehen, vollgestopft mit Reliquien eines Nordpol-Fans. Von der rechten, schwarz verhängten Bühnenhälfte weht Gemurmel herüber, dann reißt Mazzini den Vorhang hinfort – und potzblitz, die Darsteller der Nordmeerreisenden stehen dort in zerlumpten Kostümen, mit geweißten Gesichtern. Während Ransmayr ihr Hunger-Kälte-Tod-Drama von 1873 und Mazzinis 1980er-Jahre-Spurensuche nördlich von Spitzbergen abwechselnd parallel darbietet, sind die Figuren der Vergangenheit nun dazu da, den Wortschwall des Erzählers in knappest dialogisierten, kratzig kehlig geflüsterten Miniszenen zu bebildern oder als Tableau vivant zu illustrieren. Werden sie eingekeilt zwischen Eisschollen, sehen wir Panik in Zeitlupe. Geht nach monatelanger Finsternis die Sonne auf, gibt’s ein stummes Jubelballett. Auch werden die Planken der Polarschiffswelt und die Welt bedeutenden Theaterbretter eins mit dem Fußboden des Mazzini-Zimmers. Die Schiffsbesatzung stößt hindurch, dringt in die andere Realität ein. Rohland wirft Regieanweisungen, aber auch seine Anna zur Triebentladung in die Männermasse. Während sonst alle Fragen nach dem Warum dieser Expedition und den Motivationen, daran teilzunehmen, unbeantwortet bleiben, ist dies der einzige Moment, in dem ein Thema einmal theatral angetippt wird: Kerle allein unter Kerlen, jahrelang, von der Welt im Eismeer isoliert, was passiert da mit den Bedürfnissen nach Zärtlichkeit (Katzen waren diesbezüglich mit an Bord), menschlicher Nähe und Sexualität? Schnell ziehen sich die Eismänner aber wieder in ihren eisblau illuminierten Schaukasten zum Überlebenskampf zurück. Der Hauptdarsteller folgt ihnen. Schultert eine Leiche – und verschwindet, weil das Licht verlöscht. „Mazzini war tot. Er müsste tot sein.“
Die Aufführung liest sich zwar flüssiger als das Buch. Da aber Möglichkeiten der Emotionalisierung seriös gemieden, analytische Durchdringung oder inszenatorische Kommentierung ungenutzt bleiben, wird Ransmayr auf die Spitze getrieben: Aus dem Buchtitel „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ wird der Stücktitel „Die Reise ins Eis“ wird eine Orgie der Sachlichkeit, die fast so frostig daherkommt, dass die Eiseskälte am Nordpol und im Herzen eines Lebensmüden zu spüren ist.