Foto: Das Ensemble des neuen Hessischen Staatsballetts in "Left Right Left Right" © Regina Brocke
Text:Melanie Suchy, am 20. Oktober 2014
Mit besonderer Spannung war der erste Auftritt des Hessischen Staatsballetts an diesem Wochenende erwartet worden. Denn dieses Ensemble unter diesem Namen mit diesem begrifflichen Anspruch gab es vorher nicht. Mit viel Verhandlung und Geschick war nun aufgrund der seit 1974 bestehenden Verträge, die eine ständige Kooperation der Staatstheater ohnehin vorsehen, aus zwei auch ästhetisch getrennten Ensembles eines gemacht worden. Es ist mit 28 Tänzerinnen und Tänzern kaum größer als dasjenige, das vorher in Wiesbaden residiert und bis zum Sommer 2014 sieben Jahre lang erfolgreich von Stephan Thoss geleitet wurde. Aber es stellt sich mit mehr Aktivitäten auf, neben Kreationen des frisch gebackenen Ballettdirektors Tim Plegge gibt es nämlich auch Gastchoreographenengagements, Gastspieleinladungen und Residenzangebote, kuratiert vom Direktorenkollegen Bruno Heynderickx. Dritter Kollege im Leitungsherrenteam ist Johannes Grube, Betriebsdirektor, der als Kenner beider Häuser zum Pendelexperten wird. Ob das Pendel nachhaltig ausschlägt in Richtung Glück, Erfolg und Anerkennung? Dieser Dreier-Abend „Aufwind“ zum Start ließ vorsichtig hoffen.
Er kam im fast komplett gefüllten Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt sehr gut an, bot er doch auch, klug komponiert, „für jeden etwas“, im positiven Sinne: um zu zeigen, was im zeitgenössischen Ballett möglich ist. Ein nachdenkliches, ein flott-humorvolles und ein zackiges, multimedial-futuristisches Stück. Letzteres steuerte der international gefragte Choreograph und ehemalige Forsythe-Tänzer Richard Siegal als Uraufführung bei: „Liedgut“, benannt nach dem gleichnamigen Albumtitel von Uwe Schmidt alias Atom™ von 2009. Dessen elektronische Klänge, sein Rauschen und Fauchen und raunend röhrende Songs über Wellen, Felder, Signale verbinden sich überzeugend rauschhaft mit dem Flimmern, Flackern, Stricheln und Wörterformen auf einem riesigen plankenartiken LED-Bildschirm mit Ufo-Anmutung. Nur was die in Latex-Bodies zu Unisexfiguren mutierten Tänzer machen, bleibt fast leblose Staffage zu den Sound- und Pixelwettern. Erst tauchen sie einzeln und zu zweit aus dem Dunkel ins Screenzwielicht und verschwinden wieder. Später bauen sie Gruppenmuster, die sich wandeln und zerfallen. Zunächst recken und posieren sie stolz in Art des 1990er-Forsythe, später platzieren sie klassische Arabesken wie Skulpturen in den düsteren Raum. Fund- oder Funkstücke aus uralten Zeiten des romantischen Balletts.
Der junge schwedische, ebenso international erfolgreiche Choreograph Alexander Ekman hüpft fröhlich über das Erbgut des Balletts hinweg. „Left Right Left Right“ schuf er 2012 fürs Nederlands Dans Theater; darin baut er sogar, wenn auch ins Halbherzige gerückt, eine Kritik am marschhaften Gleichtakt ein, der sowohl dem Klassischen Tanz als auch dem mainstreamigen Fitnessgerenne innewohnt. Mit seinem bekannten stupendem Sinn für Timing stellt er die 24 Tänzer in einen unsichtbaren führerlosen Lebensapparat, der ruckartig anläuft. Stehen, Fuchteln, Stehen, Boxen. Dann joggen sie, tanzen auch, teilen sich in Phrasen auf, die wie Zitate wirken, von Kollegen wie Astaire, Forsythe und Shechter abgeschaut. Und immer wieder Laufen, später sogar auf Laufbändern, an die man sich, erklärt ein Tänzer aus dem Off, wie an einen Tanzpartner gewöhne. Sieht leicht aus, aber Fehltritte dürfen nicht sein. Keine Fälle. Perfektion ist Gebot, wie eh und je.
Tim Plegge ist in gewisser Weise der ehrlichste der drei. Als Choreograph noch kaum bekannt, kümmert er sich in seinem Halbstünder um das Ensemble, um das, was für alle anliegt, auch für ihn: „Vom Anfang“. Für etliche Tänzer ist es eine Zeit des Abschieds von der Thoss-Ära, für andere ein Start in Deutschland. Solche Weisen, wie Menschen Übergänge erleben, mit Wegducken, Abwarten, zögernden Schritten, hektischem Suchen, mit gewagten Balancen, mit Vorwärtsstürmen, Mitreißen und kurzem Zurückblicken, mit dem Empfinden getragen oder gehemmt zu werden: Das alles choreographiert er für einzelne Tänzer und für die Gruppe. Ein Wechselbad der Gefühle, ein Luftbad ohne Geheimnisse. Auf Mittelgebirgshöhe. Sein eher lockerer Ballettstil gibt den Tänzern Raum für Ausdruck, allen voran Valeria Lampadova und Tenald Zace. Ein Sympathiestück.