Foto: Kaspar (Eric Laporte) und Samiel (Eva Verena Müller) arbeiten an der deutschen Nationaloper. © Thomas M. Jaug
Text:Stefan Keim, am 13. Dezember 2015
„Was gleich wohl auf Erden dem Jägervergnügen?“ singt der Chor der Staatsoper Hannover. Dazu laufen Filmszenen, die Kameramann Voxi Bärenklau bei einer Pegida-Demonstration in Dresden gedreht hat. Mürrische Menschen schleichen an der Kamera vorbei, in keinem Gesicht regt sich Lebensfreude. Diese Bilder sagen mehr aus als ideologische Analysen. Fremdenhass macht nicht glücklich. Dortmunds ruhmreicher Schauspielintendant Kay Voges erkundet mit Carl Maria von Webers „Freischütz“ die dunklen Abgründe der deutschen Seele.
Samiel ist die wichtigste Figur in dieser Inszenierung. Der teuflische Herrscher über Wolfsschlucht und Freikugeln entpuppt sich als Künstler. Samiel will eine „deutsche Nationaloper“ schaffen und ist von Anfang bis Ende präsent. Er unterbricht die Sänger, spult Szenen zurück, gibt Anweisungen, was gesagt und gespielt werden soll. Eva Verena Müller spielt diesen Samiel als deformiertes Wesen mit Knollennase, Glatze, schiefen Zähnen und abstehenden Ohren, ein Gollum mit heftigem Sprachfehler, infantil und hochphilosophisch, eine umwerfende Leistung.
Kay Voges spart nicht mit krassen Bildern. Die sieben Zwerge treten ebenso auf wie Nazis in Strapsen, zu Agathes Taubentraum-Arie „Und ob die Wolke sie verhülle“ sieht man sie auf der Leinwand im Hochzeitskleid in einem Horrorsanatorium immer wieder in braunen Exkrementen ausrutschen. Die Bühnenbilder werden oft von Filmeinspielungen überlagert, oft weiß man gar nicht, wo man hinschauen soll. Voges hat nicht nur mit Kameramann Voxi Bärenklau einen Mitarbeiter von Christoph Schlingensiefs Operninszenierungen im Team, er führt auch Schlingensiefs Ästhetik der Überforderung fort. Dieser „Freischütz“ ist der Versuch, eines Gesamtkunstwerkes über das deutsche Wesen im Zeitalter der Online-Orientierungslosigkeit.
Die Geschichte ist nur noch als grober roter Faden zu erkennen. In seinem grandiosen Dortmunder „Tannhäuser“ war Kay Voges maßvoller, beim „Freischütz“ geht er in die Vollen und entfacht einen mitreißenden, vielschichtigen, hemmungslosen Bilderstrudel. Einen klaren Fokus findet er nicht. Aus der Sicht des klassischen Regietheaters wäre das eine Schwäche, bei Voges ist die Verweigerung der Hermeneutik Prinzip. Er nimmt es den Zuschauern nicht ab, einen Weg durch den Wahnsinn zu finden.
Einmal schiebt Hannovers Generalmusikdirektorin Karen Kamensek ein Schild aus dem Orchestergraben. Darauf steht, dass sie sich von einer Szene distanziert. Ansonsten dirigiert sie klangschön aber unauffällig. Die Sänger allerdings können glänzen. Vor allem der strahlende, biegsame Tenor Eric Laporte als Max und der kraftvolle Bass Tobias Schabel als Kaspar werfen sich auch körperlich in ihre Rollen. Während Dorothea Maria Marx als Agathe und Ania Vegry als Ännchen stimmlich wie darstellerisch erst ein bisschen auf Distanz bleiben, bevor sie sich immer weiter öffnen. Impulsives, aufregendes Musiktheater, das ein Teil des Premierenpublikums wütend ablehnte und der andere begeistert feierte.