Ensembleszene

Fremd ist er eingedrungen

Hans Thomalla: Kaspar Hauser

Theater:Theater Freiburg, Premiere:09.04.2016 (UA)Regie:Frank HilbrichMusikalische Leitung:Daniel Carter

Mit einem wie Kaspar Hauser haben offenbar nicht nur die Nürnberger  und Ansbacher nach 1828 ihre Probleme, sondern auch die Freiburger im Jahre 2016. Die Fassade ihres Theaters jedenfalls zierte selbst am Tag der Uraufführung der Oper „Kaspar Hauser“ das Plakat zum „Schmuck der Madonna“ vom Vortag. Der Blick auf den Spielplan beruhigte dann aber: kein Irrtum beim angereisten Zuschauer. Im günstigsten Fall ein unbeabsichtigter Kalauer des Marketings.  

Drinnen, bei der Uraufführung von Hans Thomallas vom Theater Freiburg in Auftrag gegebener, mit dem Theater Augsburg koproduzierter und von der Ernst von Siemens Musikstiftung finanzierter Opern-Novität geht es auch um das Verschwinden von Kaspar Hauser. Oder besser um das Nichts, aus dem er plötzlich auftauchte, um die Leere in ihm oder die Risse, die durch seine Gegenwart in der Welt der braven Bürger fühlbar werden. Am Ende jedenfalls, da kann das berühmteste Findelkind des 19. Jahrhunderts, das wie ein Ufo zwischen den Bürgern landete, nur als Denkmal überleben. Hier als eines, das blutet. 

Davor geht es in den anderthalb Stunden nicht nur um eine quasi referierende Aufarbeitung der Aktenlage zum Fall Hauser in der Librettoform, die sich der Komponist selbst daraus destilliert hat. Musikalisch setzt der 1975 in Bonn geborene, jetzt in Chicago Komposition lehrende Thomalla in seiner zweiten Oper (nach „Fremd“ 2011 in Stuttgart uraufgeführt) immer wieder auf die Anziehungskraft jenes Nichts, jener Beinahe-Stille, jenes komponierten Schweigens, das Hauser wie ein Schwarzes Loch anzieht und dem er zu entkommen versucht.  

Diese tönende Stille (diese Oper ist nichts für eine verhustete Jahreszeit), droht ab und an alles zu verschlingen. Auch den Sound für die bürgerliche Ruhe, der wie Sommerhitze vibriert und immer mal von kleinen pointierenden Irritationen einzelner Instrumente kenntlich gemacht wird. Langsames Eskalieren und ein melancholisches Trompeten „wa-wa-wa“ inklusive. Regisseur Frank Hilbig lässt Kaspar Hauser im trichterförmigen, leicht giftigen Sonnengelb des abstrakten Bühnenkastens von Volker Thiele von unten auftauchen. Er könnte auch vom Himmel gefallen sein, denn der sich verjüngende Raum ist oben offen. Sechs Männer und zwei Frauen sind schon da. Gabriele Rupprecht hat sie alle in Alltagskleidung von heute gesteckt. Sie sind nicht einzelnen Rollen zugeordnet, sondern ihren Stimmen. Susanna Schnell und Sigrun Schell als lyrischer und dramatischer Sopran, Christoph Waltle und Roberto Gionfriddo als lyrischen und dramatischen Tenor, Alejandro Lárraga Schleske und Pascal Hufschmid als lyrischer sowie Juan Orozco als dramatischer Bariton und Andrej Yvan als Bass. Sie alle teilen die vorkommenden Männer und Frauen aus Nürnberg und Ansbach (ob Gerichtspräsident, Gymnasialprofessor, englischer Graf, Rittmeister, Gerichtsarzt, Organist, Polizeiaktuar, Leutnant und Bürgermeister oder diverse Töchter und Gattinnen) je nach Bedarf untereinander auf. Thomalla meint es gut mit allen, lässt ihnen Entfaltungsspielraum mit ariosen Einsprengseln. Daniel Carter und das famose Philharmonische Orchester Freiburg umspielen sie, wie das Licht den Raum und der Schlamm das seltsame, schon recht ausgewachsene Findelkind.  

Wenn das auftaucht sind sie alle längst dabei, nach Spuren zu suchen, die ihre latente Irritation erklären könnte. Das Andere, Rätselhafte, sprich: der Fremde zieht eben nicht wie ein Wanderer ein. Er wuchtet sich aus einem Loch in der Mitte der Bühne und wirft sich ihnen vor die Füße. Als der personifizierte Abgrund. In einer Ganzkörper-Schlammpackung. Modellierbar. Unfertig. Bedrohlich. Eine Projektion per se. Er sieht ganz anders aus und artikuliert sich anders. So, als ob der Abgrund, in den sie alle heimlich starren, zurück starrt und antwortet. Dafür zieht der Countertenor Xavier Sabata alle Register seiner Virtuosität, mit der er leicht und geschmeidig ins Brustregister hinabsteigen und sich ins feminine Falsett aufschwingen kann. Hinzu kommt die rein körperliche Bühnenpräsenz. Schlammpackung hin, Schlammpackung her. 

Der Reiz von Thomallas Oper liegt im Wechsel von narrativem Voranschreiten und Innehalten. Da berichten die Nürnberger und Ansbacher wie sie mit Hauser in Kontakt kommen, ihn zu ergründen versuchen, ihn vereinnahmen, mit ihm experimentieren oder spielen. Zwei Mal wird er mit dem Messer attackiert. Beim zweiten Mal tödlich.  Davor erleben wir seine Versuche, zu sich selbst und eigenen Worten zu finden, seine Geschichte als Autobiographie zu erzählen. 

Dazwischen gibt es immer wieder jene Momente, die der Komponist „Risse“ oder „Nichts“ nennt und die er mit einem suggestiven, feingeschichteten, geradezu aparten Klang ausstattet. Bis es dann passiert: Wenn Hauser plötzlich ungarische Worte erkennt, gar seiner rätselhaften Indentität auf die Spur kommt, zu kommen scheint oder es auch nur vortäuscht, kommt das Genre quasi zu sich selbst und richtet sich mit einem harten, rhythmisch flankierten szenischen WER BIST DU emanzipiert auf und packt den Zuschauer ganz unmittelbar. Die Begegnung mit Caroline Kannewurf, dem lyrischen Sopran, wird gar zu einem Ausflug auf die Gipfel des musikalisch Schönen, mit einem utopischen Ausblick, der über den Horizont jener Bürger hinausgeht, sie allesamt nervös macht, ja aggressiv werden lässt. Erst in seinem Traum ist Hauser schließlich wirklich bei sich, im Gedankenpalast seiner Kindheit. Nur wo der zu finden ist, das bleibt in der Schwebe. Das ist die Art von Fremdheit, die die Einheimischen nicht mögen, die sie – wie den Hauser in ihrer Mitte – zurück in den Abgrund stoßen, dem er entstiegen war. Um ihm dann dennoch ein Denkmal zu setzen. Ein Schelm, wer 2016 dabei an uns selber denkt….