Foto: Charlie (Lea Ruckpaul) und ihre Ängste © Thomas Rabsch
Text:Andreas Falentin, am 23. September 2019
Vor zehn Jahren war die damals 17jährige Helene Hegemann der Komet der deutschen Literaturszene. Ihre popkulturell gepimpte Milieustudie „Axolotl Roadkill“ spaltete nicht nur die Rezensenten in Gruppen fanatischen Anbeter genauso fanatischen Verneiner, sondern nährte auch die Debatte um die Legitimität von Urheberrechtsverletzungen und um die Definition und Bewertung von „Plagiaten“. Über Wochen war das Thema selbstverständlicher, teilweise täglicher Bestandteil aller Feuilletons, die auf sich hielten.
Vor einem Jahr hat Helene Hegemann nun ihren dritten Roman, wie man unter Literaten so sagt, vorgelegt. „Bungalow“ will auf gut 300 Seiten gleich dreierlei sein: Milieustudie um ein Mädchen in der Pubertät und ihre trinkende, persönlichkeitsgestörte Mutter in einer Hochhaussiedlung, thematisch an „Axolotl Roadkill“ anschließend; groteske Liebesgeschichte zwischen der Protagonistin Charlie und dem Beautiful-People-Paar Maria und Georg, das in einen Bungalow zieht, den das Mädchen vom Hochhausbalkon einsehen kann; schließlich eine Dystopie mit apokalyptischen Zügen, erzeugt durch eine Aneinanderreihung von Natur- und sonstigen Katastrophen.
Dreh- und Angelpunkt von Simon Solbergs Bearbeitung ist Hegemanns Sprache, gespeist aus Popkultur und Soziologensprech, oft zu eigenwilligen Metapern zugespitzt. In Düsseldorf trifft diese Sprache fast immer ins Ziel und schießt gleichzeitig beständig darüber hinaus. Weil Hegemann hart am Puls der Zeit ist in ihrer hingeworfenen Gesellschaftsanalyse, sich aber auch immer wieder dem poetischen Überschwang hingibt wie dem vertiefenden Kreisen um die eigenen Beobachtungen und Bilder. Diesen Gestus fängt Solberg ein, durch geschicktes Wechselspiel zwischen Erzählung und Interaktion, vor allem aber durch Auseinandersetzung und Detailarbeit am Text auf einem Niveau, wie sr auf deutschen Bühnen wirklich nicht täglich zu erleben ist.
Die Bühne von Maria Reyes Pérez ist vor allem Düsternis. Am Anfang schreit Licht grell auf und sechs schwarze Schatten taumeln auf die Bühne. Einer von ihnen ist Charlie. Lea Ruckpaul landet zügig vorne in der Mitte, hinterm Mikro und erzählt. Ruhig, aber von Spannung zerrissen. Und aus der Rückschau. Ihr behäbiger Vater schlappt über die Bühne und sucht sich einen Platz vorn links. Er hat die Familie verlassen, weil er sie nicht mehr aushalten wollte und sich nicht gewollt fühlte. Florian Lange hält diese Haltung durch, kommt immer mal wieder vor, gräbt sich ein, drängt nicht ins Zentrum. Wir lernen die Mutter kennen. Judith Rosmair zeichnet ständig, wie zwanghaft, verzerrte Gestalten, die an Alfred Kubin denken lassen oder sogar an Francis Bacon. Dann schleppt sie die Rahmen herum. Wie sie schaut, hat scheinbar nichts zu tun mit dem, was sie macht oder was sie sagt. Ein freier Radikaler, der seine Mitmenschen von Haus aus in Schwierigkeiten bringt.
Diese Konstellation etabliert Simon Solberg durch viele kleine Bilder und Momente. Nie bebildert er realistisch, aber immer im Sinne einer Erzählung. Die rationellen theatralischen Aktionen interagieren mit dem Text und treiben die Handlung weiter, nach innen. Das schöne Paar kommt dazu. Minna Wündrich und Sebastian Tessenow agieren als Maria und Georg – eine stimmige, wichtige Maßnahme der Regie – nur von der Leinwand herab, vor einer Wand von fröhlichen Leuchtkugeln. Auch bei ihnen beeindruckt die Leichtigkeit und Präzision im Umgang mit dem Text. Man kann ein Mädchen verstehen, dass sich aus seiner privaten Hölle herauswünscht in dieses coole Anything goes. Und Lea Ruckpaul beglaubigt alles durch ungeheuer differenziertes Spiel, durch permanente Haltungs-Metamorphosen von der Frau zum Mädchen und wieder zurück. Man geht mit ihr, sieht ihr Unglück, aus dem es keinen Ausweg gibt. Zumindest fällt einem keiner ein.
Und zwischendurch gibt es alle möglichen Unwetter. Und es regnet 13 Tage lang. Und immer findet Maria Reyes Pèrez theatralische, produktive Lösungen. Wobei man einwenden kann, dass der Abend gegen Ende aus dem Gleichgewicht fällt, dass das eine oder andere theatrale Exerzitium dann nicht mehr mit dem Text interagiert, sondern nebenherläuft. Dass es immer lauter wird, obwohl doch eigentlich analytisch erzählt, nicht gesteigert, sondern aufgedeckt wird. Und dass, gerade im letzten Viertel, Textblöcke für sich stehen und ein Gefühl von Leere und Überdruss erzeugen. Was durchaus gewollt sein kann. Genau wie der Versuch, den Gegenstand der Erzählung, eine große soziale Katastrophe, übers Spiel abzurunden. Was wohl gar nicht möglich ist.
So wird‘s doch lang am Ende, werden Momente verpasst, den Abend am Höhepunkt der Finsternis abzureißen. Das von Jonas Friedrich Leonhardi als Charlies Freund Iskender herausgeschleuderte Metaphernbild hätte sich da besonders angeboten. Da geht es um Menschen, die nur noch vorwärtsdrängen, nicht innehalten, nicht kommunizieren, alle Hindernisse unter ihre Füße treten und schließlich alle an derselben Wand zerschellen. Man erkennt sich ungern darin. Und es kann danach eigentlich nichts mehr kommen. Kommt aber doch.
Dennoch ist „Bungalow“ über weite Strecken fantastisches Theater, lebendig und mit sehr heutigem, sehr jungem und ein wenig versponnenem Blick gesehen. Wir Älteren müssen das ertragen. Und dankbar dafür sein.