Doch wer jetzt die übliche Anklage des Opfers wider die Ausflüchte des Täters erwartet, wird bald auf den Weg produktiver Verwirrung geführt. Schwarz ist nicht schwarz und weiß nicht weiß in diesem auf einer zweifarbigen kreisrunden drehbaren Spielfläche (Bühne: Bissane Al Charif) stattfindenden Kammerspiel – die in den jeweiligen Szenen nicht geforderten Darsteller sitzen auf Stühlen daneben.
Immer mehr Grautöne tun sich in den Gesprächen zwischen dem Anwalt (Hartmut Stanke) und seinem Klienten Anas (Victor Calero), zwischen Walids Verteidigerin Nadia (Anja Schweitzer) und ihrem Freund Bassil (Nicola Fritzen), zwischen Walid (Henry Meyer) und seiner Tochter Maha (Josefin Fischer) auf. Die augenscheinliche Wahrheit bekommt immer mehr Risse. Familiäre Verflechtungen überkreuzen sich mit den politischen Verhältnissen in der Diktatur: einem System, das auf Denunziation und Folter gründet.
Schlichte Strenge
Mit schlichter Strenge verhandeln Autor und Regie den Fall vor dem Publikum, das auf theatrale Effekte verzichten muss. Einzig ein Baumstamm mit sehr weit verzweigtem Wurzelwerk ragt von der Decke über den Köpfen der Spielenden in den Raum. Er lässt – wie der Text selbst – Deutungsräume offen: Steht er für die Entwurzelung der syrischen Flüchtlinge in Berlin und anderswo, steht er für die Verästelungen einer Wahrheitssuche, die nie ans Ende kommt, weil das Gesagte von Verschwiegenem umgeben ist?
Immer wieder werden die Protagonisten mit Erinnerungen konfrontiert, von denen sie bisher nichts wussten – und am Ende scheint die Erkenntnis auf, dass sich in einer Diktatur niemand ihren Methoden entziehen kann. Wie sagt es Bassil: „Wenn ich gemein wäre, würde ich sagen: Damals gab es niemanden in Syrien, der nicht auf die eine oder andere Weise Komplize des Regimes war. Und wenn ich nicht gemein bin, würde ich sagen, es gab Leute, die versucht haben, sich davon fernzuhalten, sogar wenn sie beim Geheimdienst arbeiteten.“
Verdämmerndes Ende
Und ob diese Methoden den Namen „syrischer Geheimdienst“, „Stasi“ oder „Gestapo“ tragen, ist letztendlich egal. Al Attar geht es nicht um politische Konkretion, sondern um grundlegende Bedingungen menschlichen Handelns zwischen Angst, Opportunismus und Bestechlichkeit. Auch wenn einen das Gefühl nicht verlässt, die Aufführung wäre authentischer mit syrischen Schauspielern besetzt gewesen, weist Attar solche Überlegungen zurück. Verhandelt und vermessen wird in Freiburg das Konfliktfeld zwischen persönlicher Betroffenheit, familiärer Solidarität und den unmenschlichen Bedingungen eines den Einzelnen mit Füßen tretenden Systems, in dem man schneller zum Verräter wird, als man je es für möglich gehalten hätte.
Trotzdem hätte man dieser hochspannenden Vorlage, die in Zeiten extremem Schwarz-Weiß-Denkens sehr zu denken gibt, mehr schauspielerisches Engagement gewünscht. Unter die Haut geht diese Aufführung nicht. Was allerdings ganz gut zu ihrem verdämmernden Ende passt: Alle sitzen smalltalkend auf der Bühne – und mit dem Licht wird auch der Wunsch nach Aufklärung verabschiedet.