Foto: Die Amazonen in „Talestri“. Im Vordergrund (v.l.n.r.): Corinna Scheurle, Eleonore Marguerre und Julia Grüterr © Bettina Stöß
Text:Klaus Kalchschmid, am 14. November 2022
Nach der Pause im 3. Akt dominiert wohltuendes Schwarzweiß und eine fast leere Bühne, es gibt keinen rastlosen Bewegungschor mehr und die Amazonen besinnen sich plötzlich auf ihre Weiblichkeit, haben nicht mehr den Kopf halb rasiert, tragen keine Tattoos mehr und schrille blaue Hosenanzüge, sondern die Haare offen, sind in ihren dünnen weißen Unterhemden – und ihren Bewegungen – verletzliche Frauen, die sich aneinander schmiegen und in ihren Reaktionen die ihnen angetane Gewalt zeigen.
Wildes Amazonendrama von bayerischer Prinzessin
Am Ende des 2. Akts war die Handlung eskaliert von Maria Antonia Walpurgis‘ „Talestri“, deren erste Aufführung 1763 in Dresden belegt ist und zu der die bayerische Prinzessin, später sächsische Kurfürstin, auch den Text schrieb und die Titelpartie sang. Da wurde offenbar, dass Oronte, der einst in Frauenkleidern als Orizia unter den Amazonen lebte, als Sohn des Skythenkönigs durch Vergewaltigung Tomiris gezeugt wurde. Als sie von seiner Identität erfährt, will ihn die Mutter töten, doch das würde auch bedeuten, Blut der Amazonen zu vergießen. Wie eine Pietà hatte sie ihn auf ihrem Schoß gewiegt, doch nun zückt sie das Messer und behauptet später, dass er tot sei. Das wiederum ruft die Amazonenkönigin Talestri auf den Plan, deren heimlicher Geliebter Oronte ist. Und sie fordert Learco (obgleich gesundheitlich angeschlagen, meistert Sergej Nikolaev seine Tenor-Partie mit schönem Timbre beachtlich), den Bruder Orontes auf, alles niederzubrennen, was sie natürlich bald bereut, vor allem, nachdem klar war, dass der Tod Orontes nur eine Finte war. So kommt es überraschend schnell zu einem für die Barock-Oper üblichen Lieto fine, also einem glücklichen Ende.
Bedeutungsschwanger und doch eindrucksvoll
In diesem 3. Akt wird das Drama geschärft und es gibt jede Menge ausdrucksvoller Recitativi accompagnati, also vom Orchester begleiteter Rezitative, und die B-Teile der Da-Capo-Arien sind nun gewichtiger, expressiver und getragener. Doch schon in den ersten beiden Akten erweist sich Walpurgis als gelehrige Schülerin Johann Adolf Hasses und komponiert Musik auf der Höhe ihrer Zeit. Dass im Gegensatz zum italienischen Original in den Arien und Duetten in den Rezitativen eine manchmal unfreiwillig komische deutsche Übersetzung benutzt wurde, trug zum angeblich besseren Verständnis nicht unbedingt bei, denn es gab ja für alles Übertitel! Wie es auch zunehmend störte, dass Regisseurin Ilaria Lanzino die Arien in den ersten beiden Akten mit jeder Menge Aktionen eines neunköpfigen Tanzensembles (Choreografie: Valentí Rocamora i Torà) lebendiger und kurzweiliger machen wollte.
Auch das Bühnenbild (Emine Güner, von der auch die Kostüme stammten) war bedeutungsschwanger. Es zeigte bis zu seiner endlichen Auflösung im dritten Akt hinter einer in der Mitte dominierenden Kugel, auf die es immer wieder wie in einer rituellen Handlung Blut regnete, strahlenkranzförmig angeordnete rote Schuhe, die auf die berühmte Aktion von Elina Chauvet Bezug nehmen, die erstmals 2009 in der mexikanischen Stadt Ciudad Juarez zu sehen war und seither vielfach kopiert wurde. Jedes Paar Schuhe steht da für ein Opfer eines Femizids. Am Ende knallen Dutzende rot eingefärbte Schuhe vom Schnürboden auf den Boden, die tags zuvor Teil einer Kunstaktion auf dem Platz vor dem Opernhaus waren und aus der die Protagonisten sich zum Schlusschor jeweils ein beliebiges Paar herausfischen.
Rundum gelungen war das musikalische Niveau des Abends: Der Originalklang-Experte Wolfgang Katschner dirigierte im hochgefahrenen Graben historisch informiert ein exzellentes kleines Orchester aus Mitgliedern der Staatsphilharmonie Nürnberg, das auf modernen Instrumenten spielte. Die die Streicher benutzten, immerhin, Barockbögen. Auch bei den Sängern blieben kaum Wünsche offen. Das Frauen-Trio war großartig: Julia Grüter spielte und sang eine bewegende Talestri, Eleonore Marguerre nicht weniger überzeugend Tomiri und die Mezzosopranistin Corinna Scheurle setzte einen eigenen Akzent als Oberpriesterin Antiope. Ray Chenez (Oronte) besitzt einen leuchtkräftig höhensicheren Countertenor, der beim Duett mit dem gehaltvollen Sopran Julia Grüters wunderbar verschmolz.
Fazit: Fast 25 Jahre nach der Ersteinspielung mit der Batzdorfer Hofkapelle und einer spannenden szenischen Aufführung im Münchner Cuvilliès-Theater eine lohnende erneute Wiederentdeckung einer inhaltlich damals wie heute ungewöhnlich ambitionierten und raren Oper einer Frau, die musikalisch durchweg von hoher Qualität ist.