Elena, das ist die kluge, bildungsbeflissene und distanziert beobachtende Erzählerin, während ihre geniale Freundin Lila aus einfachsten neapolitanischen Verhältnissen stammt, sich trotzdem enorm viel Wissen aneignet – sogar den „Ulysses“ von James Joyce – und sich mit einer ganz großen Portion Chuzpe durchs Leben beißt. Am Ende, das erfahren wir als Cliffhanger gleich zu Beginn des gut dreistündigen Abends, wird sie alles hinschmeißen und sich klammheimlich verdünnisieren – weg von den bedrückenden Verhältnissen im proletarisch-mafiotisch geprägten Neapel und weg von all den fiesen Kerlen, die sie emotional und geschäftlich ausbeuten und die ihr nie und nimmer gewachsen sind.
Was für eine Rolle! Lorena Handschin packt sie an. Mit Verve und ganz großem Talent lässt sie ihre Lila leuchten. Noch studiert sie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart, aber auf der Nationaltheater-Bühne zeigt sie, wie viele spielerische Finessen sie jetzt schon im Repertoire hat. Lorena Handschin hat das Zeug dazu, als Nachwuchsdarstellerin des Jahres ganz groß rauszukommen. Lava fließt durch ihre Adern. Diesen Eindruck gewinnt man nicht nur deshalb, weil einmal ganz kurz davon die Rede ist, dass wir uns alle auf einer dünnen Erdkruste bewegen, unter der sich gigantische Magma-Massen verbergen. Gelegentlich bahnen sie sich ihren Weg nach oben durch den Vulkankegel des Vesuvs, der die gesamte Bucht von Neapel majestätisch überragt. Mit Franziska Beyer, Sarah Zastrau und Ragna Pitoll stehen drei weitere Lilas auf dem Besetzungszettel, um den Facettenreichtum dieses eruptiven Charakters zu unterstreichen.
Der Dresscode der Kostümbildnerin ist dabei klar: Katrin Wolfermann hat allen vier Lilas eine lilafarbene Kledage verpasst, während die beiden Elenas vorwiegend in sanftem Grün gewandet sind. Den Part der Erzählerin Elena hat Melanie Lüninghöner übernommen: Ruhig und präzise vermittelt sie, dass sich dieses epische Theater nicht etwa bei Brecht anbiedert, sondern sich einfach nur ganz tief vor der Romanvorlage Elena Ferrantes verbeugt. Arwen Schünke, auch sie noch Studentin, setzt als junge Elena das um, was die Erzählerin gerade vermittelt. Auch sie agiert mit Schmackes.
Lässt diese Frauenpower also die Kerle blass aussehen? Nein, das wäre zu kurz gegriffen. Sie sind zwar charakterlich keine Glanzlichter, aber um das spielerisch umzusetzen, braucht es ja auch Talent. Ein Darsteller-Quintett steht für all die männlichen Schattenseiten: mal als stumpfsinniger Vater oder blöder Macho, mal als brutal vergewaltigender Ehemann, als gerissener Mafioso, der aus Lilas toll designten Schuhen Kapital schlägt, oder als linksintellektueller Lover Nino, für den sich beide Freundinnen interessieren.
Viva Schudts Bühnenbild setzt mit einer schlichten Breitwand-Konstruktion und dem angedeuteten Straßentunnel darunter keineswegs auf eine bunt-quirlige Italianitá. Sie hat einen großzügigen, eher abstrakten Raum geschaffen, in dem sich die Gedanken der Zuschauer entfalten können. Die Häuser, in denen Stumpfsinn und Brutalität regieren, werden durch Plexiglas-Vitrinen angedeutet. Schaut auf dieses Bestiarium! Das nüchtern-triste neapolitanische Ritone könnte überall sein. Die Ortsbezeichnung ist nichts weiter als ein Synonym für den Begriff Stadtviertel, das lässt sich in dem ausführlichen „Ferrante-ABC“ des Programmhefts nachlesen. Es verschafft einen guten Überblick über die zum Teil recht komplizierten Personenkonstellationen.
Eins macht der Abend ganz deutlich: Elena Ferrantes überbordender Mikrokosmos steht für die ganze Welt. So wie das Lübeck der Buddenbrooks oder das Danzig des Blechtrommlers Oskar Matzeraths. Man ist gespannt darauf, wie dieses Welttheater in der Saison 2019/20 weitergehen wird.