Foto: Katharina Bach, Edmund Telgenkämper und Thomas Schmauser in "Die Freiheit einer Frau" an den Münchner Kammerspielen © Armin Smailovic
Text:Anne Fritsch, am 8. Oktober 2022
Es sind zwei Stücke, zwei Inszenierungen. Aber es ist ein Thema: die Unterdrückung der Frau durch die Männer, genauer gesagt durch ihren Mann. Felicitas Brucker eröffnet die Saison im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele mit dem Doppelabend „Nora/Die Freiheit einer Frau“ nach Henrik Ibsen und Édouard Louis. Beide Teile werden ein paar Mal als Double Feature gezeigt, danach einzeln. – Beide sind aber definitiv empfehlenswert.
Den Anfang macht Henrik Ibsens Stück „Nora“, das schon im Untertitel sagt, worum es geht: „Ein Puppenheim“. Diese Nora ist erst Tochter, dann Ehefrau. Ihre Existenz basiert auf der Abhängigkeit von Männern. Sie ist wenig mehr als ein hübsches Accessoire, das das Bild perfektioniert. Ihr Mann Torvald nennt sie „mein Eichhörnchen“ oder „mein Vögelchen“, Hauptsache niedlich und harmlos. Um ihn aus der Not zu retten, hat Nora einst heimlich Schulden gemacht, die Unterschrift ihres Vaters auf dem Schuldschein gefälscht – ihre einzige selbstbestimmte Tat. Ein Vergehen, über das sie nie mit ihrem Mann sprechen konnte – und das sie Jahre später einholt. Die Reaktion von Torvald ist wie erwartet: Ohne Verständnis, voller Vorwurf. Eitel und ich-bezogen. „Wie konntest du mir das antun? Die ganzen acht Jahre lang, ich liebe dich, du warst mein ganzer Stolz, du Lügnerin, du Verbrecherin!“ Als kurz darauf das Beweisstück, der Schuldschein, im Briefkasten liegt und klar ist, dass Noras Vergehen nicht publik wird, ist für ihn die Sache vergessen: Der schöne Schein ist nicht in Gefahr, alles kann weitergehen wie bisher. Nora aber hat erkannt, dass sie nur ein Teil seiner perfekten Außenwirkung ist, eine Puppe in einem Puppenhaus. Sie verlässt ihn.
Ibsen, reloaded
Dieses Drama einer Emanzipation hat schon viele Autor:innen inspiriert, es weiterzudenken. Am bekanntesten ist wohl Elfriede Jelineks Fortsetzung „Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte“. Die Münchner Kammerspiele haben gleich drei Autorinnen beauftragt, sich mit dem Stoff auseinanderzusetzen, und so wird dieser erste Teil des Abends zu einer Uraufführung. Sivan Ben Yishai hat einen Prolog geschrieben, in dem die Figuren des Stückes über ihre Rollen und deren Verteilung nachdenken. Katharina Bach, Svetlana Belesova, Vincent Redetzki, Thomas Schmauser und Edmund Telgenkämper sitzen am Tisch und machen sich so heitere wie entlarvende Gedanken über die Reihenfolge der Rollen im Verzeichnis, die Namenlosigkeit von Paketbote (ein) und Haushälterin (die) – und auch über die Rollenverteilung in diesem Haus, das im wahrsten Sinne des Wortes ein „Herrenhaus“ ist.
Eingebettet ins folgende, eigentliche Drama findet sich der Text „Noras Kinder“ von Ivna Žic: Immer wieder treten die drei Kinder (teilweise bereits als Erwachsene) zwischen den Szenen auf, denken über die Rolle ihrer Mutter in diesem Familiensystem nach. Gerhild Steinbuch gibt Nora vor allem am Ende eine sehr heutige – und sehr wütende Stimme: „Das bin ich/Nora die zwei Meter aus sich rausfährt sich von oben zusieht/Nora die endlich kapiert was das sein muss/Scham/Nora die sich nicht mehr ertragen kann/Nora die die ganze alte Welt aus sich rauskotzt“.
Felicitas Brucker inszeniert in dem auf dem Kopf stehenden Haus, das Viva Schudt entworfen hat, mit einem durch und durch überzeugenden Ensemble ein dichtes Kammerspiel einer Tragödie, die darauf fußt, dass eine Frau nie mehr sein konnte oder sollte als ein Accessoire ihres Mannes. Katharina Bach spielt diese Nora wie einen ruhenden Vulkan, unter dessen Oberfläche es aber gewaltig brodelt. Und der irgendwann genauso gewaltig explodiert. Irgendwann, als noch nicht alles zu spät war, singt oder schreit sie ihrem Torvald „SOS“ von ABBA entgegen: „Where are those happy days? They seem so hard to find. I try to reach for you, but you have closed your mind.“ Er versteht es nicht. Auch Svetlana Belesova darf nach den langen Corona-Jahren endlich zeigen, was sie kann. Als Noras Freundin Kristine leitet sie souverän durch den Abend, stößt hier eine Entwicklung an und analysiert dort klar die Missstände.
Ist Veränderung möglich?
Nach der Pause geht es weiter mit der Adaption von Édouard Louis kurzem, intensiven Roman „Die Freiheit einer Frau“, in dem der französische Autor direkt seine Mutter anspricht, ihre Geschichte erzählt. Die viel zu früh schwanger wurde, sich mit 18 wiederfand in der Rolle als „Hausfrau und Mutter“. Den ersten, gewalttätigen Mann verließ sie irgendwann. Der zweite war nur vermeintlich besser, das Drama wiederholte sich. Louis schildert eine Ausweglosigkeit, die aus der totalen Abhängigkeit erwächst. Einer Abhängigkeit, die von den Männern befördert wird. Er erzählt von einer Kindheit mit zu wenig Geld und zu viel Scham. Von einer Mutter, deren einziger Traum darin bestand, „die Zeit zurückzudrehen“.
Katharina Bach spielt auch diese Mutter, abwechselnd mit Thomas Schmauser und Edmund Telgenkämper. Alle drei spielen alle drei: Vater, Mutter, Sohn. Die Rollen wechseln, die Mechanismen bleiben die gleichen. Felicitas Brucker bleibt sehr nah an der Vorlage, stellt hie und da etwas um, kürzt wenig. Der nur 90 Seiten lange Roman ist von sich aus dicht genug. Die Regisseurin spürt die immer wieder aufbrausende Lebensfreude der Mutter ebenso auf wie ihre tiefe Verzweiflung, gibt den glücklichen Momenten zwischen Mutter und Sohn ebenso Raum wie denen der Verletzung und Scham.
Sie räumt dem Vater mehr Text ein als die Vorlage es tut, fügt Passagen aus Louis’ Vater-Roman „Wer hat meinen Vater umgebracht“ ein, die auch dessen Schicksal beleuchten.
Am Ende befreit sich die Mutter aus ihrer zweiten Ehe. Ihre prekäre wirtschaftliche Lage bleibt, über allem schwebt die Frage: Ist eine wirkliche Veränderung überhaupt möglich? Die Flaschen, die sich auf der weißen leeren Vorderbühne aufreihen, auf der dieses zweite Stück spielt, gehen im Laufe des Abends jedenfalls fast alle zu Bruch. Wie die Träume von echter Freiheit. Die Scherben und Splitter bleiben an der Kleidung der Spieler:innen haften wie sichtbare Zeichen ihres Scheiterns.
Den Münchner Kammerspielen ist mit diesen beiden Inszenierungen ein fulminanter und starker Start in die Saison gelungen, die wohl nicht einfach werden wird. Selbst die Premiere ist nicht ausverkauft, das Publikum will neu erobert werden. Es wäre wohl klug, ihm ein wenig niederschwelliger zu begegnen, deutlicher zu kommunizieren, was auf dieser Bühne passiert (zumindest an Abenden wie diesem): großes Theater zu wichtigen Themen, das gleichzeitig Spaß macht und zum Denken anregt, das urkomisch ist und tragisch zugleich. Das sehr viel zu tun hat mit uns, unserem Zusammenleben. Und mit unserer Vision einer Zukunft.