Frauen, die auf Helikoptern reiten

Florentina Holzinger: Ophelia’s Got Talent

Theater:Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Premiere:15.09.2022 (UA)

Ihr Männer! Ihr Dichter! Schaut. Was sind schon Worte? Für Florentina Holzinger eine unbefriedigende Angelegenheit. Aus der Ursuppe des Patriarchats geborgen, schwimmen sie wie Ölflecken auf dem Meer, eine zähe Masse bildend, die sich wie Latex um weibliche Unterleiber legt. Mit diesen Fischschwänzen, glänzend und schwarz, ist ein Fortkommen an Land nicht mehr möglich. „Die schönen Nixen, im Schleyergewand“, sie liegen zappelnd und japsend am Boden.

Hubschrauber mit weiblicher Besatzung

Hier, in der Berliner Volksbühne, wo einst Frank Castorf Worte auf Worte türmte, ist an diesem Abend schweres Gerät vonnöten. Mit martialischem Geknatter schwebt es herab. Und die Frauen schweben ihm entgegen. Alle Lust braucht Größenwahn? Das galt hier lange Zeit insbesondere für die männlichen Intendanten. Tiere, Autos, Panzer wurden aufgefahren, in München dann: ein ganzer Helikopter. Dieses ikonografische Bühnenbild aus Frank Castorfs „Baal“-Inszenierung steht einem vor Augen, als sich im letzten Drittel von Florentina Holzingers Spielzeiteröffnungsinszenierung „Ophelia’s Got Talent“ an der Berliner Volksbühne ein riesiger Hubschrauber auf die Bühne senkt. Was wurde mit diesem Gerät, dessen Geknatter Männern so wohlig in die Weichteile fährt, nicht schon alles Großes assoziiert? Flughöhe, Wendigkeit, Geländegewinne, Massengeschwader. Und immer schön griffbereit der Steuerknüppel zwischen den Schenkeln. In „Apocalypse Now“ ließ Francis Ford Coppola bekanntlich – ebenfalls von Castorf ausgiebig zitiert – den Helikopter-Flug mit Wagners Walkürenritt unterlegen. Ein Mann, ein Gefährt. Nun ist es zurück, mit ausschließlich weiblicher Besatzung. In nackter Lässigkeit, wie bei Holzinger üblich, erklimmen fünf Frauen das stählerne Gerät, um es seufzend und stöhnend so lange zu reiten, bis es in einem irren Schwall spritzend ejakuliert, in Schieflage gerät – und ins Meer stürzt.

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Das Meer als Fantasiegespinst

Das Meer, das sich auf Nikola Kneževićs Bühne in Form eines Swimmingpools sowie zwei großen Wasserbassins manifestiert, ist das große Thema in „Ophelia’s Got Talent“. Als Metapher und also geräumiges Fantasiegespinst, in dem sich so allerlei verklappen lässt. Unwillige Frauen zum Beispiel, die Mann begehren, aber nicht erobern kann. Rätselhaft, melancholisch, verführerisch; all die Undinen, Melusinen, Sirenen; ätherische Wesen „im Schleyergewand“, wie Heinrich Heine seine Nixen beschrieb – die Kulturgeschichte ist voll davon. In der Regel ging es, anders als an diesem Abend, für die Frauen in den zahlreichen Dichtungen, Gesängen, Mythen und Erzählungen in entgegengesetzter Richtung: nicht hinauf in große Höhen, sondern – kaum aus dem Wasser geangelt – wieder hinab in die tiefsten Tiefe. Die titelgebende Figur, Shakespeares Ophelia, ist nur das prominenteste Beispiel davon. Von Hamlet verstoßen, ertränkt sie sich in einem Fluss, wobei der britische Mahler John Everett Millais die Tote mit solch elysischer Schönheit umrankte – auch Nick Cave zitierte dieses Gemälde 1996 im Video zu seinem Song „Where The Wild Roses Grow“ –, dass dieser durch einen Mann induzierte Tod wahrlich nichts Schlechtes gewesen sein kann.

Voyeuristische Betrachtung des weiblichen Körpers

Florentina Holzinger und ihr zwanzigköpfiges Frauenensemble haben eine diebische Freude daran, diese Bilder, Metaphern, Zuschreibungen zu dekonstruieren. Auf der Bühne wimmelt es nur so von Nixen, Meerjungfrauen, Fischen, Anglern, Tauchern, Piraten, von Referenzen zu Film und Fernsehen, Peepshow und Puff. Ständig zappelt eine Frau im Netz, stürzt sich ins Wasser oder hängt am Haken, letzteres ist dabei wörtlich zu verstehen, denn Holzingers Theater ist immer auch großer Zirkus. Da werden Wangen mit Angelhaken durchbohrt (Xana Novais), Frauen an den Zähnen gen Bühnenhimmel gezogen, es gibt Entfesselungstricks unter Wasser (Netti Nüganen) und eine Performerin (Fibi Eyewalker), die nicht nur das Schwert eines Schwertfisches schluckt, sondern auch eine Sonde, die fortan ihre Eingeweide filmt. Gerahmt durch eine Persiflage des Castingshow-Formats „Got Talent“, welche das Spektakelhafte der Nummern ironisch bricht, treiben Holzinger und ihr Kollektiv wie auch schon in früheren Arbeiten die voyeuristische Betrachtung des weiblichen Körpers ins Extreme. Eine Landnahme als Körpernahme, deren ganze Brutalität sich in der Schilderung einer Vergewaltigung äußert, die der Vergewaltiger offenbar so selbstverständlich vollzog, als greife er im Supermarkt nach einem Brot.

Hatte sich Ingeborg Bachmann in „Undine geht“ nach ihrer Zustandsbeschimpfung („Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer! Ihr Ungeheuer mit dem Namen Hans“) wieder unter die Wasseroberfläche zurückgezogen, ist Holzingers Ansatz ein Angriff mit Wumms, ohne die Wucht der Bilder, die im Cinemaskope-Format der Volksbühne natürlich besonders gut wirken, mit komplexeren Meta-Kontexten auszubremsen. Dabei beißt sich die Produktion nur scheinbar in den Schwanz: Kaum eine Frau wird sich heutzutage mit den an diesem Abend heraufbeschworenen Zuschreibungen einer verletzlich im Wasser planschenden Nixe identifizieren. Im Vordergrund steht hier vielmehr der Mann, dessen Verkörperungen als Angler, Tiefseetaucher, Seefahrer, Matrose und Klempner die Performerinnen in fröhlicher Aneignung persiflieren. Die sechs nackten Frauen, die zu russischer Volksmusik einen vor breitbeinigen Posen und stolzgeschwellten Brüsten nur so strotzenden „Sailors Dance“ performen, werden als schnoddrigster Kommentar zu Putins Angriffskrieg in der Ukraine und den damit auch in Deutschland wieder populär gewordenen Männlichkeitskonstrukten in dieser Spielzeit sicherlich noch lange in Erinnerung bleiben.

Die Landnahme als Inbesitznahme, auch Kolonialismus genannt, betrifft dabei nicht nur Menschenkörper, sondern auch Güter, Ressourcen, Natur. Ein Regen von Plastikflaschen ergießt sich platschend ins Meer – doch sind wir, als Frauen, daran nicht ebenso schuld? Fast denkt man verblüfft, Holzinger spreche uns auch in diesem Punkt frei, da stürmen auch schon sechs Mädchen die Bühne. Dort steht sie dann, die nächste Generation, die vielleicht, wenn wir nicht handeln, die letzte sein wird. Man könnte der Inszenierung an dieser Stelle Plakativität vorwerfen – und auch einige Längen. Man kann sich aber auch einfach an diesem anarchischen, fließenden, schäumenden, triefenden, spritzenden Wasserrausch erfreuen. Das Premierenpublikum zumindest riss es beim Schlussapplaus von den Sitzen.