Foto: Immer gut in Pose: Joslyn Rechter als Verteidigungsministerin de la Roche und Jan Friedrich Eggers als Söldner auf Nahost-Mission in Florian Lutz' Inszenierung am Theater Osnabrück. © Jörg Landsberg
Text:Detlef Brandenburg, am 18. Januar 2015
Mit Ursula von der Leyen kommt die Sache in Schwung. Die Frau ist wirklich für alles gut! Als sie Manfred Gurlitts Oper „Soldaten“ am Theater Osnabrück zu ihrer ganz persönlichen Publicity-Show umfunktioniert, ohne Rücksicht auf Handlung, Figurenverzeichnis und Spielort, da bekommt die bis dahin ziemlich bemüht aktualisierende Inszenierung von Florian Lutz endlich Schärfe und bösen Witz. Das ist ein Akt der Dekonstruktion, aber ein wohltuender – eben weil Lutz diese Ministerinnen-Satire nicht auf Biegen und Brechen in die von Gurlitt und Jakob Michael Reinhold Lenz eigentlich vorgesehene Geschichte hineinquetscht, sondern dreist darüberlegt. Das Video-Posing einer coolen politischen Selbstdarstellerin vorm traulichen Weihnachtsbaum, flankiert von buntkarierter Ministerinnen-Kinderschar (sie hat bekanntlich deren sieben) und hübsch zurechtgemachten Medienmigranten vom Dienst, drängt alles andere an den Rand, auch das Schicksal der armen Marie und ihrer Mitfiguren. Und genau das ist entlarvend: In der Politik geht die Show noch immer vor der tristen Wirklichkeit und dem menschlichen Leid. Und die Zuschauer haben ihren Spaß an Deutschlands Oberster Befehlshaberin.
Aber Moment: „Soldaten“ und nicht „Die Soldaten“? Manfred Gurlitt und nicht Bernd Alois Zimmermann? Ja, tatsächlich! Dieser Gurlitt, durchaus verwandt mit dem in diesen Tagen pressenotorischen Cornelius, ist ein Unglücksrabe der Musikgeschichte. Zunächst als Komponist und Dirigent in Deutschland sehr erfolgreich, sah er sich als „jüdischer Mischling 2. Ordnung“ durch die Nazis verfolgt und floh nach Japan – ausgerechnet. Denn der Arm des „Dritten Reiches“ reichte bis zum verbündeten Reich der Mitte und behinderte auch hier Gurlitts Karriere. Erst nach dem Krieg fasste er richtig Fuß, wurde zu einem wichtigen Promoter deutscher Opernkunst in Fernost und starb hochgeehrt. Sein Ruhm in Deutschland dagegen leidet – abgesehen von der Verfemung durch die Nazis – bis heute daran, dass er sich als literarische Vorlagen seiner beiden wichtigsten Opern Büchners „Woyzeck“ und Lenz‘ „Die Soldaten“ aussuchte – ausgerechnet. Denn mit Bernd Alois Zimmermann und Alban Berg konnte die gemäßigte Moderne des Humperdinck-Schülers Gurlitt einfach nicht mithalten.
Aber warum eigentlich nicht? Im Theater Osnabrück, unter der stilistisch außerordentlich ausgefeilten, sehr animierenden Leitung des 33 Jahre jungen GMDs Andreas Hotz, lernt man Gurlitts 1930 in Düsseldorf uraufgeführte „Soldaten“ durchaus schätzen. Natürlich muss man sich Zimmermanns die Musikgeschichte umstürzendes, monumentales Manifest gegen Krieg und Gewalt aller Zeiten aus dem Kopf schlagen. Stattdessen aber darf man sich wieder genauer an Lenz erinnert fühlen, denn Gurlitt bleibt in seiner geschickten, um einige Gedichte und Liedzitate angereicherten Textbearbeitung viel näher am bürgerlichen Trauerspiel und der individuellen Tragik der Figuren. Aber auch die Musik nimmt für ihn ein. Mit ihrem offenen, schlanken, aber farbenreichen Orchestersatz, in der sprachnahen, pointiert rhythmisierten Führung des Gesangsstimmen, die sich nur in wenigen Momenten zu großer emotionaler Emphase aufschwingen, erinnern diese „Soldaten“ weniger an Humperdinck als vielmehr an einen tragisch verschatteten Kurt Weill. Gurlitt hat eine erstaunlich „leichte“, manchmal fasst bluesige Musik geschrieben, die Lenz‘ Drama durch ihren unmittelbar animierenden Ton nonchalant ins Zeitlose herüberholt.
Florian Lutz holt es in die Gegenwart zurück, wogegen angesichts all der allenthalben so erschreckend ungestüm wieder aufflammenden Konfliktherde an sich nichts spricht. Doch zunächst bleibt er dabei zu eng an der Geschichte, übersetzt zu viele Details eins zu eins, so dass es verkrampft wirkt: Stolzius wird zum Waffenhändler-Sohnemann, seine Mutter ist in jeder Faser ihres dauergewellten Grauhaars und ihres durablen Wollkostüms die rheinisch-kapitalistische Fabrikantengattin, in deren Fabrik MPs montiert werden – ziemlich umständlich übrigens. Marie ist offenbar eine Muslimin, jedenfalls sucht sie ihre blonde Haarmähne immer dann unter einem Tuch zu verbergen, wenn ihr Vater auftaucht. Der wiederum ist ein Waffenschieber im nahöstlichen Outfit, der mit dem Desportes dubiose Geschäfte macht. Und dieser Desportes hat nichts Besseres im Sinn, als seine Marie statt mit einer „Zitternadel“ aus der väterlichen Schmuck-Kollektion mit einer Knarre und einer Handgranate zu beglücken – was Fräulein eben so braucht in kriegerischen Zeiten, nun ja. In kurzen orchestralen Zwischenspielen werden aktuelle Kriegs- und Vertreibungsszenarien auf die weißen Bühnenwände projiziert (Video: Konrad Kästner). Die Soldaten in ihren modernen Tarnanzügen und Offiziersuniformen hausen in einem Sandsack-geschützten Bundeswehrcamp. Und über allem prangt allenthalben das Coca-Cola-Logo. Dieses detailversessene Aktualisieren erinnert an das zeigefingernde Regietheater des vergangenen Jahrhunderts.
Wobei man Lutz und seinem Ausstatter Sebastian Hannak attestieren muss, dass sie die dauernden Verwandlungen von Gurlitts extrem kurz getakteter Dramaturgie theaterpraktisch geschickt lösen. Hannak schafft mit drei Wandsegmenten eine immer wieder verblüffende Vielfalt an Schauplätzen, und Lutz stellt die Szenen äußerst lebendig und schärft mit seiner Personenführung die Figurenprofile effektvoll. Aber erst als die Gräfin de la Roche in der Maske Ursula von der Leyens das Bühnenregiment übernimmt und Livevideos ihre Posen einfangen – da implodiert das betuliche Aktualisieren plötzlich ins Destruktive, und in den Bruchstellen der dekonstruierten Handlung blitzt die ganze Verlogenheit des politischen PR-Aktionismus unserer Medienwelt auf.
Man ist ziemlich beeindruckt, wie profiliert das Theater Osnabrück das vielfigurige Personal dieser Oper durchbesetzt hat. Susann Vent-Wunderlich ist eine enorm präsente Marie, die allerdings noch überzeugender wäre, wenn sie ihren tragfähigen und prägnant timbrierten Sopran ein bisschen delikater führen würde. Auch Jan Friedrich Eggers könnte als Stolzius mit seinem dunklen, stabilen Bariton behutsamer umgehen, ebenso wie Per-Hakan Precht mit seinen gellenden Tenor als Desportes. Eine Entdeckung ist der schlanke, klar strahlende lyrische Tenor Daniel Wagner als Sohn der Gräfin, Erika Simons ist eine grell hektisierende Charlotte, José Gallisa gibt dem alten Wesener in Klang und Erscheinung wuchtige „morgenländische“ Statur. Keine der vielen Rollen ist hier schwach besetzt. Und wie Joslyn Rechter mit klar leuchtendem Mezzo sowohl der Fabrikantengattin Stolzius wie der Verteidigungsministerin de la Roche darstellerisches Profil gibt, das ist schon eine Klasse für sich. Vom Theater und seinem Ensemble wie auch vom Dirigenten und dem Regisseur, die diese Sängerschauspieler führen, ist das eine beachtliche Leistung, die das Premierenpublikum mit begeistertem Applaus quittierte. So vital und ambitioniert kann Oper in der deutschen Theaterprovinz sein.