Foto: Szene mit Camill Jammal, Susana Fernandes Genebra und Dominik Maringer. © Katrin Ribbe
Text:Detlev Baur, am 16. September 2012
Die trauen sich was! Das Schauspiel Hannover zeigt die Uraufführung des Stücks eines jungen Autors auf der Großen Bühne, und nimmt sich und den Zuschauern dafür fünf Stunden Zeit. Der Autor wiederum, Nis-Momme Stockmann, bringt seine Erfahrungen in einer Theaterwohnung in der Inheidenerstraße 71 aus seiner Zeit als Hausautor am Schauspiel Frankfurt in sein Stück mit dem schrägen Titel „Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir“ ein. Darin verquickt er auch personell das Leben der gescheiterten Hausbewohner mit der das Haus nicht nur physisch überragenden Frankfurter Bankenwelt. Die Hauptfigur, genannt nur „Mann“, ist ein grauer Banker im schicken Sakko, der irgendwie genug hat vom kapitalistischen Selbst-Betrugs-System. Er traut sich was, verlässt Haus und Frau und zieht mit einem Koffer voller Geld in das Haus von Menschen am Rande des Systems. Der taubenhassende Vermieter ist ein freundlicher Waffennarr und zeigt dem Mann schließlich eine Weltkriegsbombe im unterbunkerten Gebäude; auch die „junge Frau“ bunkert in ihrem Keller Sprengstoff. Und sie macht dem gewissenhaften Ex-Banker klar, dass er seine Existenz und sein Handeln nicht so einfach los werden kann. Am Ende klaut sie ihm das Geld, mit dem er planlos eine „Hyperinflation“ hatte herstellen wollen. Der Aussteiger scheitert an sich und seiner Geschichte.
All das ist in dem über 300 Seiten langen, auch in Hannover noch etwas gekürzten Epos, keineswegs einfach erzählt, vielmehr mäandert die Geschichte des Mannes um narrative Erzählpartien und Chorgesänge von „durchschnittlich informierten EU-Bürgern“. Die grauen, die weiße Farbe des Hauses bedrohenden Tauben sind ebenso ein Leitmotiv wie der zerbeulte teure Koffer oder die Waffen- und Kriegsliebe des Vermieters. Lars-Ole Walburg gelingt in seiner Inszenierung auf von Robert Schweer angenehm sparsam dekorierter Bühne mit dem Ensemble aus sieben Schauspielern und 12 Kindern (die Kinder oder, mit grauen Luftballons umhängt, die Tauben spielen) die Balance aus chorischer Euro-Revue und individuellem Identitätssuchspiel. Das erinnert, etwa in einem breiten Bild mit simultanen Aktionen der Gymnastikbänder wedelnden Hausbewohner samt tänzelnden Tauben, an Jelinek-Inszenierungen von Karin Beier oder Nicolas Stemann. Schon der Text hat inhaltlich und formal Ähnlichkeit mit jüngsten Jelinek-Dramen. Stockmann wählt aber eine offenere Form und macht sich durch die Nähe zu seinen Figuren angreifbarer, ist, obwohl er zunächst weniger radikal wirkt, eigentlich mutiger. Denn er tönt nicht nur monologisch-chorisch, sondern sucht zugleich auch noch den Dialog.
Dank der Einzelfiguren, vorneweg Hagen Oechel als entspannt umherirrender „Mann“ und Aljoscha Stadelmann als freundlich-aggressiver, plappernder Vermieter, bleibt die Revue der flatternden Scheine in Hannover auch immer eine der menschlich beispielhaften Suche. Die Inszenierung trifft dabei – auch dank der über der Bühne auf einer Plattform schwebenden beiden Musiker „Les Trucs“ – mit spielerischem Ernst den rechten Ton aus Verbindlichkeit und humorvoller Selbstbeschränkung. Die Ziele waren hoch gesteckt in Hannover, für den Mann, der zum guten Menschen werden wollte, zu hoch. Der flüchtige Frankfurter Banker scheint gescheitert und bereitet damit dem Autor und dem Schauspiel einen Triumph.